Sklaverei ist kein Phänomen der Vergangenheit. Betroffen sind zehntausende afrikanische Frauen, die nach Europa in die Zwangsprostitution verschleppt werden. Von Mary Kreutzer und Corinna Milborn. DER STANDARD, Album.
Joy sitzt auf einem Stuhl, der Kopf mit den langen Plastiklocken hängt nach unten und streift den Boden, sie umarmt ihre Unterschenkel und wippt vor und zurück. Hinter ihr läuft stumm ein Fernseher, Autorennen. Die Minuten ziehen unendlich langsam vorbei in dieser Mischung aus Stundenhotel und Bordell gegenüber dem Prater in Wien, einem der Zentren des Straßenstrichs der Stadt. Nebenan zieren verstaubte Spitzenvorhänge und Topfblumen die billigen Parterrewohnungen, nur in diesen drei Fenstern brennt rotes Licht. „Kleinhandel mit Getränken und Privatzimmervermittlung“ steht auf dem Schild neben der Tür, gemalt mit ungelenken Buchstaben auf weißem Karton. Auf den alten Ledersofas sitzt ein halbes Dutzend junger Mädchen, alle aus Nigeria. Dazwischen thront eine Madame: Eine missmutige ältere Afrikanerin im Trainingsanzug mit einem Tuch um den Kopf, die scharfe Kommandos zischt. Joy hebt den Kopf, seufzt laut und zieht die Jeans hoch. Sie setzt sich neben einen Gast, legt die Hand auf sein Knie und fragt mit bemerkenswerter Abscheu in der Stimme: „Fuck?“ Doch der Gast wartet auf ein anderes Mädchen. Als er aufsteht, setzt sich Joy wieder auf ihren Stuhl und umarmt ihre Knie, den Kopf nach unten.
Joy ist eine von zehntausenden jungen Nigerianerinnen, die nach Europa verkauft wurden, um in der Prostitution ausgebeutet zu werden. Draußen, vor dem Bordell, liegt das Wiener Messegelände, an dem lange Reihen von Mädchen und Frauen stehen, die meisten aus Nigeria, die meisten blutjung: Man nimmt ihnen kaum ab, dass sie über 18 sein sollen. Sie stehen mit Miniröcken in der beißenden Kälte, oder sie tragen einfach Jeans und Turnschuhe. Wenn eine Glück hat, dann zahlt der Freier ein Zimmer im Stundenhotel. Sonst ist der Arbeitsplatz ein Baum, an den gelehnt, das Geschäft abgewickelt wird, oder der Beifahrersitz eines Autos. Wiese und Gehsteig sind übersät mit gebrauchten Kondomen und Taschentüchern. 30 Euro für „Blasen und Verkehr“ ist hier der Standard-Tarif, an schlechten Tagen werden die Preise halbiert. Damit müssen die Mädchen und Frauen die Menschenhändler abzahlen: Sie werden meist unter falschen Versprechungen angeworben – ein Job, ein Studium. Mit gefälschten Papieren werden sie nach Europa gebracht und in die Prostitution gezwungen. Bis sie ihre „Schulden“ abgezahlt haben, sind sie praktisch versklavt. 45.000 bis 60.000 Euro ist der Tarif derzeit, das sind beim Prater in Wien 2000 Kunden. Dazu kommen exorbitante Kosten für Miete und Kleidung von bis zu 3500 Euro pro Monat.
Blessing hat das Martyrium hinter sich, aber sie zittert noch, wenn sie davon erzählt. Sie wurde nach Europa verkauft und nach acht Monaten als Zwangsprostituierte nach Nigeria zurückgeschoben. Wir treffen sie in Benin-Stadt, einer Stadt im Süden Nigerias mit Straßen aus rotem Staub und niedrigen Häusern. Die meisten der Opfer von Frauenhandel aus Nigeria kommen aus dieser Stadt oder der Umgebung. Sie ist sehr schmal und freut sich so sehr über die mitgebrachten Kleider, dass sie uns mehrmals um den Hals fällt. „Ein Freund der Familie hat meine Eltern angesprochen, ob ich nach Europa will“, erzählt sie. „Er hat ein Studium in Italien versprochen.“
„Als wären wir Tiere“
Dass die Reise nicht auf legalem Weg ablaufen würde, war klar. Es gibt keine Visa für Frauen aus Nigeria, die in Europa studieren oder arbeiten wollen. Blessing musste bei einem Voodoo-Priester schwören, dass sie jene, die sie nach Europa bringen, nie verraten würde. Dann begann eine Reise durch die Hölle: die Sahara. Seit die Einreise nach Europa mit dem Flugzeug wegen verschärfter Kontrollen schwierig geworden ist, kommen immer mehr Opfer von Menschenhandel über Land und Meer. Sie müssen sich ihre Reise auf dem Weg selbst verdienen, werden von einem Zwischenhändler zum nächsten verkauft. Viele brauchen dazu mehrere Monate. Blessing verbrachte fast zwei Jahre auf dem Weg durch die Wüste von Nigeria nach Marokko, immer auf der Flucht vor den Sicherheitskräften und vor Räubern, der Wüste ausgeliefert.
„Wir mussten ständig zu Fuß gehen. Einmal waren es zwei Wochen am Stück. Wir sind die ganze Nacht immer unterwegs gewesen. Wenn wir einen Araber sahen, dann bettelten wir ihn um Essen und Wasser an. „De l\’eau, de l\’eau“ – so sagen sie dort. Manche warfen uns Früchte zu, als wären wir Tiere. Viele starben in diesen Tagen. Man sieht nichts in der Wüste, bis zum Horizont nur Wüste. Man weiß nicht, wo man hergekommen ist, wohin man geht. Ich habe meinen Urin an einen Mann verkauft, weil es kein Wasser gab. Es gingen viele mit uns los, aber es schafften nicht alle bis ans Ziel. Viele weinten, weil die Schwachen zurückgelassen wurden. Wir wussten, sie würden sterben.“
Blessing schafft es nach fast zwei Jahren Irrfahrt, mit einem Boot nach Spanien überzusetzen. Dort holt sie sofort ein Kontaktmann aus dem Rot-Kreuz-Lager ab: Die Ware Frau ist an ihrer Destination angekommen.
Menschenhandel ist laut UNO das am schnellsten wachsende Business der Welt, manche meinen, er hat Drogen- und Waffenhandel im Umfang bereits überholt. Vier Millionen Frauen und Mädchen werden weltweit jährlich zum Zweck der Heirat, Prostitution oder Sklaverei verkauft und gekauft. Einer der größten Handelsplätze des Geschäfts mit der Ware Frau ist Westeuropa, wohin laut Amnesty international jährlich 500.000 Frauen und Mädchen geliefert werden. Die größten Gewinne werden mit dem Handel in die Zwangsprostitution gemacht.
Händlerinnen aus Benin-Stadt
Frauenhandel aus Afrika nach Europa ist ein junges Phänomen: Er begann in den 1980er-Jahren im Gefolge der Wirtschaftskrise in Nigeria. Das Business liegt in der Hand von Frauen, genannt Madames – was gängige Schemata von Opfern und Tätern, bösen Männern und armen Frauen durchbricht. Es waren Händlerinnen aus Benin-Stadt in Nigeria, die zuvor in Italien Handtaschen und Gold gekauft hatten, die die Verdienstmöglichkeiten in der europäischen Sexindustrie als Erste bemerkten. Als die Wirtschaft in Nigeria zusammenbrach, begannen sie, nigerianische Mädchen nach Europa zu importieren. Bis heute sind die Menschenhändlerinnen Frauen. Die meisten davon waren selbst vorher Opfer: Nach dem Abzahlen der „Schulden“ kontrollieren sie erst für eine andere Madame deren Mädchen, bis sie genug Geld haben, um selbst welche zu kaufen. In einer Art Bausparen für Menschenhändlerinnen, Osusu genannt, zahlen mehrere Madames regelmäßig in einen gemeinsamen Topf ein. Wenn 10.000 Euro zusammengekommen sind, kann sich eine ein neues Mädchen bestellen. „Jene, die selbst Opfer waren, sind noch bösartiger. Sie haben selbst keine Gnade erfahren, und sie kennen keine Gnade“, sagt Schwester Eugenia Bonetti, die in Italien Betroffene betreut.
Die Männer arbeiten in der zweiten Reihe: als Rekrutierer, Dokumentenfälscher, Schlepper, Schläger. Die Mafia der Menschenhändlerinnen ist keine große, schlagkräftige Organisation. Es ist ein Cluster-Netzwerk, das sich immer weiter fortpflanzt – flexibel und wenig auffällig. „ Europa hat uns einen ganz klaren Platz zugewiesen: Ihr macht die Drecksarbeit auf der Straße, oder ihr geht wieder. Wir ergreifen diese eine Chance, die wir haben. Die Händler ebenso wie die Mädchen“, erklärt uns ein Trolley defensiv – so heißen die Schlepper, die den Madames die Ware bringen. „Es spricht doch für sich, dass Asylwerberinnen in Österreich praktisch nur in der Prostitution arbeiten können.“ ExpertInnen schätzen, dass heute bis zu 100.000 Nigerianerinnen in Europa als Zwangsprostituierte arbeiten. Sie suchen ein besseres Leben für sich und ihre Familie oder wurden einfach von ihren Angehörigen verkauft.
Die meisten wissen nicht, dass sie die Prostitution erwartet. Und jenen, die es wissen, wird erzählt, dass sie in wenigen Monaten die „Schulden“ von mehreren 10.000 Euro abzahlen könnten. „Wenn die Mädchen ankommen und bemerken, dass sie an eine Madame verkauft wurden und ihr ausgeliefert sind, ist das ein sehr schwieriger Moment. Wenn ihnen dann klar wird, dass sie in kurzen Röcken halbnackt auf der Straße nachts stundenlang in der Kälte stehen müssen, dann verzweifeln sie. Alle erzählen mit Tränen in den Augen davon“, erzählt Simona Meriano vom Beratungsverein Tampep, der Prostituierte in Turin betreut.
Vodoo-Zauber als Druckmittel
Blessing erzählt: „Am ersten Abend ging ich auf die Straße, mit den Leggings und der Bluse, die sie mir gegeben hatte. Es kamen Autos auf mich zu, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. An diesem Tag hatte ich keine Kunden. Die Madame wurde böse und schrie. Es folgten Schläge. Ich fand keinen Ausweg, konnte keine klaren Gedanken fassen. „Die anderen arbeiten und du nicht – was machst du die ganze Zeit?“, schrie sie. „Schläfst du auf der Straße? Wie willst du das Geld abzahlen?“ Ich sagte ihr, ich könne das nicht machen, niemand habe es mir gesagt, ich könne es einfach nicht! Aber ich musste.
Dann kamen die ersten Kunden. Ich war nicht mehr Blessing. Die, die ich einmal war, war tot. Weiße Männer schliefen mit mir, gaben mir Geld, und ich gab es ab. Manchmal kamen gar keine, manchmal fünf hintereinander. Wenn sie nicht zahlen wollten, dachte ich: „Gott, wie soll ich das überleben?“ Manchmal nahmen sie mich in einen Club mit, manchmal schliefen sie mit mir im Auto. Ich bin bei jedem Mal innerlich gestorben.“
Die Mädchen und Frauen sind in einem dichten Netz an Zwängen gefangen, die eine Flucht fast unmöglich machen. Es ist nicht nur rohe körperliche Gewalt, die sie dazu zwingt weiterzuarbeiten. Die MenschenhändlerInnen behalten ihre Papiere ein, was den Gang zur Polizei unmöglich macht – dort würden sie, wenn sie die Täter nicht anzeigen, nicht als Opfer behandelt, sondern als illegale Einwanderinnen abgeschoben. Eine Anzeige wiederum ist riskant: Es gibt zwar Opferschutzprogramme, aber sie bieten nur befristeten Aufenthalt, keine Garantie auf Schutz, nicht einmal eine Arbeitserlaubnis. Vor allem aber können sie die Familien nicht schützen. Die Menschenhändlerinnen haben ein dichtes Netzwerk: Zahlt eine Betroffene nicht ab, gerät die Familie unter Druck – bis hin zum Mord. Das wirksamste Mittel, die Opfer zum Schweigen zu bringen, ist aber der Schwur, den alle Betroffenen vor ihrer Abreise aus Nigeria ablegen müssen: Ein Ritual vor einem Voodoo-Priester – oder Juju, wie die weitverbreitete Religion in Nigeria heißt.
Davon kann Joana Adesuwa Reiterer erzählen. Die junge Schauspielerin aus Benin-Stadt folgte vor fünf Jahren ihrem damaligen Mann nach Österreich, einem Nigerianer mit österreichischer Staatsbürgerschaft. Er hatte ihr gesagt, dass er eine Restaurantkette in Österreich besitze. „Aber nach und nach habe ich bemerkt, dass mein Exmann Menschenhändler war“, erzählt Joana. „Er brachte junge Nigerianerinnen mit gefälschten Papieren nach Europa und verkaufte sie in die Prostitution.“ Für Joana Reiterer war die Rolle der Zuhälterin vorgesehen, sie kennt das Business von innen. Joana konnte fliehen und kämpfte sich durch: Sie absolvierte mehrere Ausbildungen, heiratete und arbeitet heute in Wien erfolgreich als Schauspielerin. Vor allem gründete sie aber den Verein Exit, mit dem sie in Wien die Opfer von Frauenhandel aus Nigeria betreut und wertvolle Aufklärungsarbeit leistet. Sie erzählt, wie ihr Mann ihr die Zwangsmaßnahmen für die Prostituierten erklärte: „Mein Exmann versprach die Telefonnummer eines Mannes, der die Mädchen körperlich bedrohen würde, wenn sie nicht zahlen und nicht gehorchen. Man könne ihnen auch sagen, dass sie illegal hier sind und keine Papiere haben, und dass man sie der Polizei ausliefern wird, die sie ins Gefängnis bringt und abschiebt. Oder man kann sie mit einem Juju-Zauber in Zaum halten: Das sei das Wirkungsvollste. ,Nimm dieses Puder und sag ihnen, dass abgeschnittene Fingernägel, Haare und Schamhaare von allen Mädchen darin sind. Sie mussten das vor der Reise beim Juju-Priester in Nigeria abgeben und schwören, dass sie jede Arbeit machen und das Geld zahlen. Nimm das Puder auf die Hand und drohe damit, es in die Luft zu blasen und einen Fluch auszusprechen. Sie werden sich dann aus Angst gegenseitig kontrollieren: Schließlich wären alle betroffen.“
Drohungen werden Realität
In Benin-Stadt machen wir einen der Juju-Priester ausfindig, der in Frauenhandel involviert ist. Dr. Baba ist fast zwei Meter groß, trägt eine gelbe Hose und sonst nichts. Sein riesengroßer nackter Bauch hüpft, wenn er lacht, und das tut er gerne und ausgiebig. Baba ist ein ranghoher Juju-Priester, ein „Elefant“. Juju ist ein Geheimnis, mit Außenstehenden spricht man nicht über die Rituale. Doch Dr. Baba verfällt so sehr ins Prahlen über seine Kräfte, dass er erzählt, welches Ritual die Opfer von Frauenhandel durchlaufen müssen: „Die Mädchen, die zum Arbeiten nach Europa gebracht werden, kommen vor der Abreise und leisten in einem Ritual im Schrein einen Schwur. Ich nehme dafür Fingernägel, Haare, Schamhaare, Achselhaare und Regelblut. Darauf schwören sie, dass sie zahlen werden und wie viel. Wenn eine nicht zahlt, dann wird sie krank, verrückt oder drogensüchtig“, erklärt der Juju-Mann, richtet sich zu voller Größe auf und rollt die blutunterlaufenen Augen. Er sieht einschüchternd aus in solchen Momenten. Bei den Ritualen sind psychogene Drogen und Alkohol im Spiel – das verstärkt wohl den Eindruck bei den Opfern. Er besuche seine „Töchter“ regelmäßig in Europa, sagt Dr. Baba – als Geist. So kann er sie kontrollieren.
Für die Opfer werden die Drohungen zu Realität: Oft sterben Angehörige, wenn sie die Prostitution verweigern, erzählt uns ein Psychologe von Naptip, der nigerianischen staatlichen Stelle gegen Menschenhandel. Meist aber trifft es die Frauen selbst: Sie glauben an den Schwur und verfallen in Wahnvorstellungen. Die Juju-Priester sind ein wichtiger Teil der Frauenhandelsmafia. Verfolgt werden sie trotzdem nicht: „Als Beamter weiß ich, dass ich sie verfolgen sollte“, sagt der Psychologe. „Aber als Afrikaner glaube ich an den Zauber.“
Rassisten, die sich bedienen
Die Wurzel des Frauenhandels ist der Absatzmarkt in Europa. Jeder dritte Mann, schätzt die deutsche Hurengewerkschaft Hydra, nimmt regelmäßig die Dienste von Prostituierten in Anspruch. Allein in Wien besuchen 15.000 Freier täglich Prostituierte, schätzt der Cedaw-Report über Frauenrechte. Seit immer weniger Westeuropäerinnen in der Prostitution arbeiten, wird die Nachfrage durch Frauen aus ärmeren Ländern gedeckt – wenn nötig, mit Zwang. Einer der Freier ist Gregor. Wir machen ein Gespräch in der Nähe des Praters aus und treffen einen Durchschnittsmann: Gregor trägt ein Sportsakko über Jeans, seine kurzen Haare lichten sich zu einer Glatze, seine Schuhe glänzen teuer. Er hat einen anspruchsvollen Job, ein schickes Auto und eine Lebensgefährtin zu Hause, die nichts von seinem Hobby weiß: Schon seit seiner Schulzeit in einem der Nobelgymnasien Wiens bedient er sich auf dem Strich. Er kennt die Geschichten der Nigerianerinnen auf dem Straßenstrich. Er nimmt sie trotzdem.
Wissen die Freier, was sie tun – und was tun sie, wenn sie merken, dass sie es mit Zwangsprostituierten zu tun haben? „Soll ich ehrlich sein? In diesem Moment ist dir das egal“, sagt Gregor offen. Afrikanische Prostituierte, erklärt er, füllen eine Marktlücke: „Sie sind immer billiger als die anderen. Das geht wohl auf die Zeit des Sklavenhandels zurück.“ Afrikanerinnen erfüllen außerdem Sehnsucht nach Exotik; und erschreckend oft sind es gerade Rassisten, die sich ihrer bedienen. Ob die Prostituierten ihre Arbeit freiwillig machen, ist den meisten Freiern egal: Auf eine Frage in einem Freierforum im Internet antworten uns 19 Freier. Alle gehen davon aus, dass es in Wien Zwangsprostitution gibt. Doch nur einer der 19 sagt, er würde bei einem konkreten Verdacht etwas unternehmen.
Der Frauenhandel aus Afrika nach Europa wird von Afrikanern und Afrikanerinnen betrieben – doch die Verantwortung liegt in Europa. Hier ist nicht nur der Markt: Auch das Rechtssystem spielt den Frauenhändlern in die Hände. Die wirtschaftliche Lage in Nigeria – an der Europa nicht unschuldig ist – zwingt fast in jeder Familie einen Angehörigen dazu, auszuwandern. Seit es unmöglich ist, ein Visum für Arbeitszwecke zu bekommen, läuft der einzige Weg nach Europa über illegale Bahnen, die Menschenhändler können sich den Familien der Opfer als Helfer präsentieren. Dank der Korruption an den europäischen Botschaften sind gefälschte Visa mittlerweile fast der einzige Weg, nach Europa zu kommen. Österreich wurde so zu einer Drehscheibe für den Frauenhandel aus Nigeria: Der österreichische Konsul in Lagos wurde 2006 verurteilt, weil ihm nachgewiesen wurde, dass er fast 700 Visa irregulär vergeben hatte. Geld sei nicht im Spiel gewesen. Menschenhändler in Nigeria erzählen uns allerdings von einer wahren Parallelbotschaft, in der zu fixen Tarifen österreichische Visa gekauft werden konnten.
Kleine Schritte von 30 Euro
Ist eine Frau nun nach Österreich geschleppt worden, wird sie von den Menschenhändlern mit einer falschen Geschichte zum Asylamt geschickt: Denn Asylwerberinnen dürfen hier zwar keine normalen Jobs machen – aber ganz legal als Prostituierte arbeiten. Für die Dauer des Asylverfahrens können die Frauen also ausgebeutet werden, ohne Verfolgung durch die Behörden zu fürchten. Nach drei bis vier Jahren werden sie dann abgeschoben. Die Menschenhändler importieren die Ware. Der Staat schiebt sie wieder ab, wenn sie ausgelaugt ist.
Opfer von Menschenhandel steht zwar Opferschutz zu – allerdings nur dann, wenn ihre Aussagen zu einem Verfahren gegen Menschenhändler beitragen. Dieses Risiko ist für die meisten Betroffenen zu hoch. „Kein Opferschutzprogramm der Welt kann die Familien zu Hause schützen“, erklärt uns ein Beamter. Das bindet der Polizei die Hände: „Beweise können nur vom Opfer geliefert werden. Aber die Kooperationsbereitschaft der Opfer ist gleich null“, sagt Gerhard Joszt von der Bundespolizei.
Die meisten Opfer von Frauenhandel, die mit der Polizei in Berührung kommen, werden daher einfach abgeschoben, oft noch in der Arbeitskleidung. Dazu kommt, dass die Polizei oft nicht darauf eingestellt ist, Opfer von Menschenhandel zu erkennen – oder erkennen zu wollen. Als Joana Reiterer, die Schauspielerin, ihren damaligen Mann in Wien wegen Menschenhandels anzeigen wollte, wurde die Anzeige gar nicht erst aufgenommen: Sie solle sich erst scheiden lassen, riet ihr der diensthabende Beamte.
Eine Tour durch alle Institutionen, mit denen Betroffene von Frauenhandel zu tun haben, zeigt: Einfache Lösungen gibt es nicht. Denn die afrikanischen Prostituierten am Straßenrand sind nicht nur Opfer eines Verbrechens: Es sind die großen Verwerfungen unserer globalen Gesellschaft, die dazu führen, dass sie hier ausgebeutet werden – Unterdrückung von Frauen, globale wirtschaftliche Ungleichgewichte und Rassismus.
Im Bordell und Stundenhotel beim Prater ist es mittlerweile fünf Uhr früh, Joy erwacht aus ihrer krummen Haltung. Die Madame klatscht in die Hände, die Mädchen auf den Ledercouchs gähnen und stehen auf. Sie schnappen ihre Taschen und Jacken, verlassen mit eingehängten Armen das Bordell. Draußen wird es schon hell, die Mädchen laufen auf die Straße, winken den Autos zu: Es ist die letzte Möglichkeit für diesen Tag, noch ein bisschen Geld zu verdienen. Ein Auto mit drei betrunkenen Insassen bleibt stehen, lange wird verhandelt. Die drei nehmen zwei Mädchen für fünfzig Euro. Joy und eine andere steigen sofort ein. Joys Asylantrag wurde abgelehnt, sie ist mittlerweile illegal in Österreich und arbeitet mit der Kontrollkarte einer Kollegin. Sie zahlt seit zwei Jahren ab. Bald wird die Polizei wohl einen Tipp bekommen, und Joy wird abgeschoben werden. Einstweilen hat sie noch Hoffnung und arbeitet weiter daran, sich freizukaufen, Kunde für Kunde, in kleinen Schritten von 30 Euro. (Von Mary Kreutzer und Corinna Milborn, DER STANDARD, ALBUM, 29./30.3.2008)