Corinna Milborn wundert sich nicht, dass Berlusconi wieder den Hals aus der Schlinge zog. MEINUNG. NEWS Nr. 50/10 vom 16.12.2010
Silvio Berlusconi ist wieder einmal davongekommen, gewann das Misstrauensvotum und bleibt im Amt. Der Rest Europas fragt sich kopfschüttelnd: Sind die Italiener denn verrückt geworden? Allein die Liste der Skandale in den letzten zwei Jahren sollte in jeder funktionierenden Demokratie den Reflex auslösen, so einen Ministerpräsidenten so schnell wie möglich loszuwerden: Im Oktober soll er ein 17-jähriges marokkanisches Partygirl, das die Feste in seiner Residenz bei Mailand schmückte, höchstpersönlich vor einer Festnahme bewahrt haben. Im März wurde einer seiner Senatoren unter Mafiaverdacht festgenommen – was daran erinnert, dass die Mafiaverbindungen des Ministerpräsidenten selbst nie aufgeklärt wurden. Und dass Berlusconi nicht überhaupt wegen Korruptionsverdacht vor Gericht steht, hat er einem 2008 erdachten Gesetz zu verdanken, mit dem er sich selbst unter Immunität stellte. Wie konnte eine Abgeordnetenkammer, in der der Cavaliere nicht einmal über die Mehrheit verfügt, diese korrupte, schönheitsoperierte 74-jährige Skandalnudel schon wieder ins Amt heben?
Die einfache Erklärung lautet: Geld. Doch sie greift zu kurz. Für das, was Berlusconi im Vorfeld der Vertrauensabstimmung aufführte, wäre das Wort Kuhhandel zwar eine Beschönigung: Er warf mit Zusagen für arme Regionen um sich, bot Abgeordneten offen Geld und Posten an oder bedrohte sie in ihrer Existenz. Doch wer seinen Sieg darauf reduziert, verkennt, dass Berlusconi seit 1994 die italienische Politik prägt. Denn dieser Meister der charmanten Skrupellosigkeit verkörpert Italien wie kein anderer.
Berlusconis Stärke ist, dass er den tiefen Zynismus, mit dem die Italiener die Politik betrachten, versteht – und ihn für sich nützt, indem er ihn bestätigt. Vor Berlusconis zweitem Antritt 2001 betrug die Halbwertszeit italienischer Regierungen nur wenige Monate. Zwischen 1980 und 2000 erlebte das Land nicht weniger als 15 Wechsel im Amt des Ministerpräsidenten. Italien war ein Land des Dauerwahlkampfs, in dem Minister ihre Büros noch gar nicht bezogen hatten, ehe sie sie wieder räumen mussten.
Die Italiener haben jahrzehntelange Übung darin, ihr Leben an der Politik vorbei zu organisieren und sich die grausam schwerfällige Bürokratie mit Geschenken und Tricks vom Leib zu halten. Als Berlusconi antrat, wählte man ihn nicht wegen eines Programms – nein: Bei diesem Bauunternehmer mit Mafiageruch wussten die Italiener, woran sie waren. Er hatte sich in der zutiefst italienischen Kunst des schamlos charmanten Durchlavierens einen Weltmeistertitel verdient und damit allemal das Amt des Ministerpräsidenten. Seine zweite Regierungsperiode war die längste seit Mussolini.
Zugleich hat sich Berlusconi das Land, das ihn wählt, zu einem guten Teil selbst erschaffen: Sein Medienimperium machte aus dem hochpolitischen Italien der 1970er ein entpolitisiertes Boulevardstück, in dem der Ausschnitt der Showgirls, die sogar politische Diskussionen behübschen, mehr zählt als jede Art von Inhalt. Konsequent schlug er 2009 drei blutjunge Kandidatinnen für die Europawahl vor, deren einzige Qualifikation in kurvigen Modelmaßen lag.
Doch so geübt Berlusconi im Tricksen und Durchlavieren ist – in dieser Periode wird er scheitern. Noch am Abend seines Triumphes brachen in Rom heftige Straßenschlachten aus. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 26 Prozent, das Einstiegsgehalt eines Uni-Absolventen beträgt magere 800 Euro – und der Staat führt mehr als die Hälfte seiner Einnahmen als Schuldendienst ab. Italien ist nach den Berlusconi-Jahren gesellschaftlich wie wirtschaftlich am Rande des Kollapses, und Reformen waren nie seine Stärke. Vermutlich steuert Berlusconi nun auf Neuwahlen im Frühjahr zu. Es kann gut sein, dass er die gewinnt. Und dann wird ganz Europa wieder ungläubig den Kopf schütteln.