Kampusch, Autorin: Wie das Protokoll einer Gefangenschaft entstand. Von Corinna Milborn. NEWS Nr. 37/10 vom 16.09.2010.
Ein Entschluss. Beim ersten Treffen ist Natascha Kampusch angespannt. Sie streckt den Arm weit von sich, als sie mir die Hand gibt, und spricht leise. Sie hat sich entschlossen, ihre Geschichte aufzuschreiben – doch sie fühlt sich nicht stark genug, es alleine zu tun. Der Verlag hat mich als Ghostwriterin vorgeschlagen, ich habe Bücher von mir mitgebracht. Beim nächsten Mal hat sie die relevanten Passagen gelesen und sagt zu. Wir beginnen. Es ist eine Reise ins Innere einer Gefangenschaft, die oft an die Grenzen des Erträglichen führt.
Natascha Kampusch will das Unfassbare in Worte gießen und es damit begreifbar machen – auch für sich selbst. Aber sie sieht das Buch auch als Aufgabe: Denn ihre Geschichte zeigt, dass man in ausweglosen Situationen überleben und sich daraus selbst befreien kann. Das mitzuteilen, Mut zu machen – das gibt ihr die Kraft, die traumatischen Erlebnisse noch einmal aufleben zu lassen.
Diszipliniert bis an die Grenze. Über mehrere Monate treffen wir uns, manchmal für ein paar Stunden, oft für ganze Tage. Anfangs fließt die Erinnerung chronologisch. Natascha Kampusch fasst ihre Gedanken in klare Sätze, so prägnant formuliert, dass man sie wortwörtlich aufschreiben kann. Doch als es um die Zeit der Gefangenschaft geht, verstummt sie immer öfter. Die Grausamkeit lässt den Atem stocken. Manchmal quält sich die Geschichte heraus, manchmal verstummt die junge Frau und steht selbst fassungslos vor den Angriffen, denen sie ausgesetzt war, als würde sie sie zum ersten Mal von außen sehen: die Schläge, die Dunkelhaft, der Psychoterror. Die Monate nahe am Hungertod – und die Launen eines Täters, der ihre einzige Bezugsperson war und die Welt draußen zur schemenhaften, verbotenen Erinnerung verblassen ließ.
Doch sie bricht nie ab: Sie trinkt ein Glas Wasser, schnappt kurz Luft und geht ein paar Schritte. Dann setzt sie sich und spricht weiter. Es entsteht ein einzigartiger Einblick in die Beziehung zwischen einem psychopathischen Täter und einem Opfer, in dem die Angst und die Gefangenschaft so tief steckten, dass sie bei den Ausflügen im letzten Jahr nicht mehr um Hilfe bitten konnte – und das sich schließlich doch befreite.
Draußen tobt derweil ein Deutungskampf um ihren Fall: Die Sonderkommission ermittelt, Ludwig Adamovich spinnt krause Theorien, Kampusch steht fast täglich in der Zeitung. Sie kann nicht mehr ins Café oder mit der U-Bahn fahren: Zu feindselig sind nun die Reaktionen, und sie treffen die zerbrechliche junge Frau tief. Aber sie strafft immer wieder die Schultern und analysiert, messerscharf, den Umgang einer Gesellschaft mit einem Opfer, das sich weigert, zu zerbrechen. Die Überlegungen fließen ins Buch ein. Sie gehören für mich zu den stärksten Passagen.
„Jetzt bin ich frei.“ Nach den langen Gesprächen verstehe ich, warum Natascha Kampusch ihre Geschichte nicht selbst aufschreiben konnte. Das Grauen, die Komplexität ist kaum in Worte zu fassen: Selbst mir, als Zuhörerin, fällt es schwer. Wir arbeiten deshalb zu zweit am Text: Ich in Wien, Heike Gronemeyer in München. Natascha Kampusch liest die Kapitel Satz für Satz, bessert aus, fügt Details hinzu. Als das Buch fertig ist, legt sie den Text auf den Tisch und lächelt. „Jetzt bin ich frei“, ist der letzte Satz darin.
Noch ist es nicht so weit. Natascha Kampusch hat sich eine Aufgabe gestellt und hält sich daran. Sie spricht in den Interviews neuerlich über ihre Vergangenheit. Doch es ist ein neuer Ton darin: Sie hat die Deutungshoheit über ihre Geschichte zurückerobert. Das Buch ist damit auch eine Selbstbehauptung gegenüber einer Gesellschaft, die ihr nicht zugestehen wollte, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen: eine neuerliche Selbstbefreiung. Ich wünsche ihr dabei alles erdenklich Gute.