Schock. Der Berg, das Feuer, die Asche – eine Wolke bringt die Welt zum Stillstand. Crash. Millionen gestrandet, Airlines am Boden, Wirtschaft im Sturzflug. Risiko. Wo uns die Natur sonst noch weh tun kann. Von T. Duffek, D. Hell, M. Leeb, Ch. Lehermayr, C. Milborn, D. Pesendorfer, D. Schmied, H. Simons, S. Wobrazek. NEWS Nr. 16/10 vom 22.04.2010.
Sie ist nur eine von Millionen. Und wie jeder Einzelne von ihnen will sie weg – so schnell wie möglich. Eleftherios-Venizelos-Airport, Athen. Eigentlich sollte Maria Vassilakou jetzt 1.370 Kilometer weiter nördlich im Wiener Rathaus sitzen, wo der Gemeinderat tagt. Stattdessen steht die Spitzenkandidatin der Grünen in der Check-in-Halle vor dem Olympic-Airways-Schalter. Ursprünglich hätte sie ja am vergangenen Samstag fliegen sollen, dann am Sonntag, nun ist’s bereits Montag. Und wo vorgestern noch Grün war, ist heute Zornesröte. „Das Fotoshooting für unsere Wahlkampagne kann nicht länger warten, ich muss zurück …“
Nicht warten können. Weg müssen. Seit die Aschewolke des isländischen Gletschervulkans Eyjafjalla über Europa schwebt und einen Gutteil des Flugverkehrs lahmlegt, haben sich die Vorzeichen dramatisch verändert: ein Kontinent im Standby-Modus. Ein Stillstand, der Milliarden kostet. Und eine Natur, die uns zeigt, wie verwundbar wir sind – und wie unberechenbar sie sein kann.
Eben erst konnten am Dienstag 50 Prozent der Flüge wieder starten, da schwebt schon die nächste Aschewolke aus Island auf Europa zu und zwingt die britischen und skandinavischen Airports neuerdings, dichtzumachen. Wie sich die Lage weiter entwickelt, ist unabsehbar. „Es gibt kein Anzeichen, dass sich die Aktivität des Vulkans abschwächt“, berichtet der Vulkanforscher Armann Hoskuldsson von der Universität Island, der derzeit im Dauereinsatz die Feuerberge der Insel kontrolliert. „Das letzte Mal spie der Eyjafjalla gleich zwei Jahre lang und weckte seine große Schwester, den Vulkan Katla. Das kann uns diesmal auch blühen.“
Kann es also sein, dass wir in den nächsten Monaten damit rechnen müssen, dass Airports jederzeit schließen – von einem Tag auf den anderen, unabsehbar lange? Die Folge wäre wohl nichts weniger als eine grundlegende Neuordnung des Transportwesens – und damit unserer Gesellschaft.
Denn schon die tagelange Sperre des Luftraums in den letzten Tagen trifft Menschen quer durch die Bevölkerung. In Chalkidiki sitzen über tausend österreichische Pensionisten fest, die ihren Urlaub nun um eine Woche verlängern müssen. Vom Flughafen Wien-Schwechat machen sich Menschen in Sammeltaxis auf den langen Weg nach Oslo. Leichter haben es da die Briten in Frankreich und Spanien: Ihnen eilt nun die Royal Navy zu Hilfe. Drei Militärschiffe haben sich auf den Weg gemacht, gestrandete Urlauber einzusammeln – denn bei den beliebten Billigfluglinien Ryanair und Easyjet wird der Rückstand der gestrandeten Passagiere erst im Mai abgebaut sein. Vorausgesetzt, die Flughäfen bleiben überhaupt offen. (Wie Sie als Betroffener an Ihr Geld kommen, erfahren Sie im Servicekasten auf Seite 19.)
Milliardenschäden. Was für hängen gebliebene Urlauber unangenehme Verzögerungen sind, bedeutet für die Wirtschaft Milliardenschäden. Erste Geschädigte sind die Airlines. Laut Airline-Verband IATA kostet jeder Tag, an dem nicht geflogen wird, 150 Millionen Euro. Einige angeschlagene Fluglinien treibt schon der jetzige Stillstand an den Rand des Bankrotts (s. Analyse des Luftfahrtexperten Kurt Hoffmann nächste Seite). Zweite Verlierer: die Flughäfen. Allein der Flughafen Wien verliert ein bis zwei Millionen Euro pro Sperren-Tag. Der nächste große Betroffene ist die Reisebranche: Der deutsche Reiseveranstalter TUI rechnet mit Kosten von sechs Millionen Euro. Die heimische Wirtschaft ist von den Auswirkungen durch die isländische Vulkanasche noch relativ gering belastet. Christian Helmenstein, Leiter der Wirtschaftspolitik in der Industriellenvereinigung (IV): „Die Wertschöpfung der betroffenen Branchen macht höchstens 610 Millionen Euro pro Jahr aus. Die negative Fühlbarkeit ist aber höher als die tatsächlichen Wertschöpfungsverluste.“ Erst nach mehreren Tagen Sperre sei mit Nachschubschwierigkeiten für Handel und Industrie zu rechnen.
Blockade. Doch mit jedem Tag, den die Sperre andauerte, wurde klar: Es geht nicht nur um die Transportbranchen – es geht ums Ganze. Unser Wirtschaftssystem hängt am Tropf des Luftverkehrs. Der ständige Strom von Waren, den wir Globalisierung nennen, stockt. UPS karrt Tausende Luftpost-Pakete per Auto quer durch den Kontinent. Am Flughafen Heathrow verrotten in einer Lagerhalle Tonnen frischen Lachses aus Kanada, die auf dem Weg nach Japan landen mussten. In Osteuropa stocken die Fließbänder in den Fabriken der Autokonzerne, die um den Nachschub an elektronischen Teilen aus China bangen. In Kenia und Äthiopien verwelken 2,5 Millionen Blumen in den Kühlhallen der Flughäfen – bestimmt für eine Welt, die sich auf frisch eingeflogene Bouquets aus Afrika und Lateinamerika eingestellt hat. „Unsere Blumen werden täglich über Nacht mit Kühlflugzeugen nach Amsterdam geflogen und von dort über die Welt verteilt – Europa, Moskau, Tokio. Jetzt steht alles, der Verlust ist enorm. Wir sind verzweifelt“, erzählt der aufgebrachte Chef des größten Blumenkonzerns der Welt, Karuturi, am Telefon. Die Wolke aus dem kleinen isländischen Vulkan hat der Globalisierung eine Atempause verordnet, und sie vernichtet dabei Milliarden.
Stillstand ohne Grund? Kein Wunder, dass schon nach zwei Tagen die Kritik am Flugverbot unüberhörbar wurde – allen voran vonseiten der Airlines. War die Sperre berechtigt? Und müssen wir nun jedes Mal, wenn der Vulkan aufstößt, mit dem totalen Stillstand rechnen?
Der Mann, der diese Entscheidung in Österreich zu erklären hat, hat ein fernsehbekanntes Gesicht und müde Augen – und ist sicher, dass alles richtig gelaufen ist. Vor rund neun Monaten wechselte der Nachrichtenmoderator Markus Pohanka vom ORF zur österreichischen Flugsicherheitsbehörde Austro Control. Seit vergangenem Donnerstag ist der Pressesprecher rund um die Uhr im Einsatz. „Es ist eine völlig einzigartige Situation“, erzählt der 35-Jährige (s. Tagebuch übernächste Seite). Austro-Control-Vorstandsdirektor Heinz Sommerbauer ergänzt: „Die Vulkankrise hat sogar eine größere Dimension als die Terroranschläge vom 11. September, da die Aschewolke weiterzieht und ständig neu beurteilt werden muss.“
Der Grund für die drastische Reaktion der Behörde: Vulkanasche besteht aus Steinchen und Glaspartikeln. Geraten sie in die Turbinen, können sie sich als Glas ablagern. 90 solcher Zwischenfälle gab es in den letzten 30 Jahren. Doch ob es auch diesmal zu solchen gekommen wäre, ist unklar. Verkehrsministerin Doris Bures verteidigt das Flugverbot zwar vehement: „Die Entscheidung war richtig. Wirtschaftlicher Druck ist niemals wichtiger als der Schutz von Menschenleben – bei allem Verständnis für die wirtschaftliche Lage der Fluglinien.“ Doch diese sehen auch fachliche Fehler.
Nur die Briten schickten am Samstag ein Testflugzeug in die Wolke, das „starke Beeinträchtigung durch Gesteinspartikel und Glas“ meldete. Am Sonntag verkündete die NATO, ein F-16-Bomber sei nach einem Testflug über Europa mit Glasablagerungen in den Turbinen gelandet. Doch sonst blieb das Flugverbot ohne Tests aufrecht – nur eine Computersimulation des britischen Meteorologie-Instituts steuerte das Aus im Himmel. Die Deutschen starteten ihren ersten Testflug erst am Montag. „Es ist bedenklich, dass wir darüber nachdenken, zum Mars zu fliegen, aber nicht in der Lage sind, den Grad von Asche in der Luft schnell und zuverlässig zu messen“, kritisiert Leo Flammer, Pilot und Sicherheitsbeauftragter bei ACA – Verband Österreichischer Verkehrspiloten. Im Zentrum der Kritik: die Politik in Brüssel, die bei der Koordinierung versagt habe.
Langsame EU. Das mag damit zusammenhängen, dass die europäische Politik selbst Opfer der Aschewolke wurde. Im EU-Parlament in Straßburg: sämtliche Abstimmungen auf Mai vertagt. Der Gipfel mit Pakistan: verschoben. Die EU-Afrika-Konferenz in Wien: abgesagt. Und offenbar schafften auch die Verkehrsminister es kaum, sich zu koordinie-ren. Erst am Montagabend trafen sie zu einem Krisentreffen zusammen – per Videokonferenz.
Die Wolke wirft damit ein Schlaglicht auf eine europäische Absurdität: Der Flugraum des geeinten Europas ist nach wie vor Sache der Nationalstaaten. „Das Chaos der letzten Tage hat gezeigt, dass wir den gemeinsamen Luftraum dringend benötigen“, kritisiert die österreichische EU-Abgeordnete Hella Ranner. Das Parlament hat die Weichen schon vor zwei Jahren gestellt – doch bisher wollten sich die Mitgliedsländer die Kontrolle über ihren Himmel nicht nehmen lassen. Die Folge: „Die Entscheidung wurde ohne Risikoprüfung, ohne Einbeziehung der Betroffenen, ohne Koordinierung und ohne Führungskraft getroffen“, so das vernichtende Urteil von Giovanni Bisgani, Präsident des Fluglinien-Dachverbandes IATA. EU-Transportkommissar Siim Kallas gibt nun zu: „Dieses Patchwork verschiedener nationaler Entscheidungen hat den offenen Luftraum eingeschränkt. Wir brauchen eine gemeinsame europäische Politik.“ Die Verkehrsminister haben schon zugestimmt. Die Aschewolke hat das Hickhack bloßgestellt – und damit zu einem Stückchen europäischer Einheit beigetragen.
Entschleunigung. Doch die längerfristigen Auswirkungen der Wolke werden wohl tiefer in unsere Gesellschaft reichen, als uns derzeit bewusst ist. „Die Wolke ist ein massiver Weckruf. Wir haben unsere Gesellschaft auf das wackelige Fundament schnellen Verkehrs gebaut – in der hochmütigen Annahme, die Natur sei statisch und kontrollierbar“, sagt Ian Johnson, bis 2006 Vizechef der Weltbank, nun Generalsekretär des Club of Rome, der sich für einen nachhaltigeren Umgang mit dem Planeten einsetzt (s. Interview rechts). Und tatsächlich: Neben dem Chaos auf den Flughäfen und in den Lagerhallen hat die Wolke auch Gewinner hervorgebracht: jene, die auf Luftverkehr verzichten.
Krisengewinner. Da ist zunächst die Mietwagenbranche. Besonders clever in dieser einmaligen Situation reagiert hat Stefan Miklauz von Easymotion (früher: Laudamotion). Neben den bekannten Miet-Smarts bietet er ein Limousinen-Service mit 25 dunklen Luxusfahrzeugen samt uniformiertem Chauffeur. „Allein am Freitag hat sich der Umsatz auf gut 25.000 Euro verfünffacht“, berichtet Miklauz. Entschlossene und solvente Reisende ließen sich nach Brüssel, Paris und in andere Städte Europas chauffieren. Eine Brüsselfahrt kommt auf rund 3.500 Euro. Das große Geld witterten auch einige private Wiener Autofahrer, die sich ein Schild malten, um sich darauf für Fahrten durch ganz Europa anzupreisen.
Auch die Bahn profitiert von der Wolke. Gabriela Lutter, Vorstand der ÖBB-Personenverkehrs AG: „Wir hatten am ersten Wochenende 50.000 Fahrgäste mehr als sonst. Es wurden 54 zusätzliche Züge eingesetzt, 53 Personen saßen mehr als sonst an den Kassen und Hotlines.“ Schon fordert die Industriellenvereinigung den raschen Ausbau der Hochgeschwindigkeitsstrecken. Die oft für Verspätungen gescholtene Bahn konnte hier bei Kunden punkten. Die wenigsten äußerten Ärger – trotz voller Züge: „Ich habe seit Ewigkeiten wieder das Gefühl, wirklich zu reisen“, sagt ein Frankfurter Geschäftsmann in der Warteschlange am Westbahnhof. Er wirkt dabei fast glücklich.
Island, schick uns deine Asche! Am glücklichsten sind aber die, denen die Wolke schlicht Ruhe gebracht hat. „Island, schick uns deine Asche!“, war in einem Schrebergarten bei Schwechat am Dienstag auf einem Transparent zu lesen. „Es war das ruhigste Wochenende, das wir hier je verbracht haben“, erklärt Markus Reinalter den originellen Gartenschmuck. „Kein Kondensstreifen, kein Lärm – von uns aus könnte der Vulkan noch lange Asche spucken.“
Die vielen Tausend, die noch auf dem Heimweg sind oder auf Verwandte warten, werden diese Sicht kaum teilen. Einige vertreiben sich die Wartezeit mit Aschen-Philosophie. So der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho, dessen Frau seit fünf Tagen festhängt und die Zeit nützt, um tiefsinnige Vulkan-Botschaften im Internet zu verbreiten. „Rettet den Planeten? Haha! Der Planet denkt sich wohl gerade: Rettet euch selbst, mir geht es gut“, schreibt er. Und: „Der Vulkan denkt sich wohl: Die Menschen haben mit dem Feuer gespielt. Jetzt bekommen sie die Asche.“