Religion neu. KirchenFlucht und Glaubenssuche: Das katholische Österreich ist nur noch Fassade. Seelsorge neu. Darauf bauen wir wirklich: Therapie statt Beichte. Wellness statt Buße. Und Gott – statt Kirche. Von David Pesendorfer, Christoph Bacher, Corinna Milborn, Elisabeth Semrad. NEWS Nr. 13/10 vom 01.04.2010.
Soeben hatten sich weitere Erdmassen auf das überdimensionale Grab gebreitet, für die Verschütteten gab es kaum noch Hoffnung. Es war neun Tage vor der Auferstehung des Bergmanns Georg Hainzl, als Waltraud Klasnic am Krater von Lassing mit brüchiger Stimme und tiefer Überzeugung verkündete: „Der Herrgott hat entschieden.“
Zwölf Jahre später wurde die Entscheidung zwar zwei Etagen tiefer gefällt, aber auch heute werden rasch Zweifel laut: Zu sehr sei die ehemalige steirische VP-Landeshauptfrau und nunmehrige Chefin des „Vereins der Freunde des Prieserseminars“, die Kardinal Christoph Schönborn am Palmsonntag zur Opferschutz-Beauftragten ernannte, der Amtskirche verpflichtet, monieren Betroffene.
Dennoch geht Klasnic als erster gelungener PR-Coup im heimischen Kirchenskandal durch: 42 Prozent der Bevölkerung halten die Landesmutter a. D. für „eine gute Wahl“, 48 Prozent halten sie für „glaubwürdig“. Das ergab eine Repräsentativ-Umfrage, die OGM im Auftrag von NEWS durchführte. Doch obwohl Klasnic kommt – das öffentliche Misstrauen bleibt: 79 Prozent der Bevölkerung halten die Einrichtung einer Opferanwaltschaft zwar für prinzipiell „gut“, 70 Prozent jedoch für „nicht ausreichend“.
Die Personalie Klasnic als Oberflächenkosmetik, als Fassade. So, wie auch das erzkatholische Österreich der Gegenreformation, der Habsburger, des Ständestaates und schließlich der Allianz zwischen Bruno Kreisky und Kardinal König nur noch monumentale Kulisse ist. Eine Kulisse zwischen Mariazeller Basilika und Stephansdom, hinter der sich ein Land zwischen Kirchenflucht und Glaubenssuche völlig neu orientiert. Pastoraltheologe Paul Zulehner, emeritierter Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, gibt sich keinerlei Illusionen hin: „Noch 50 Jahre, und nur noch 30 Prozent der Österreicher sind katholisch.“
1,3 Millionen Schäfchen verloren. Der Katholizismus, ursprünglich für die Ewigkeit angelegt, ist im Land der 17.000 Sakralbauten auf dem Weg zum Minderheitenprogramm. Die Zahlen zur klerikalen Götterdämmerung: Derzeit sind 66 Prozent der Österreicher eingeschriebene Katholiken. Zum Vergleich: Im Jahr 1961, zu Beginn des Wirtschaftswunders, waren es noch 89 Prozent. Selbst 1971, in der Startphase der roten Gesellschaftsreformen, immerhin noch gut 84 Prozent. Dann der massive Abwärtstrend, den auch die rechtskonservative Wenderegierung Wolfgang Schüssels nicht stoppen konnte. Seit 1976 gingen dem Klerus fast 1,4 Millionen Katholiken verloren – da sind die knapp 60.000 Austritte des Vorjahres und jene, die den aktuellen Skandalen wie das Amen im Gebet folgen werden, nur die Spitze des Kirchturms. „Österreich wird zum Missionsland“, konstatiert der Ex-VP-Parlamentarier und Bezügekaiser Josef Höchtl, als Mitglied der katholischen Burschenschaft „Franco Bavaria Wien“ eine Art christdemokratischen Urgesteins, bitter.
Das Riten-Monopol. Zumal der aufrechte Kern des österreichischen Kirchenvolks bei streng soziologischer Betrachtung bereits jetzt eine Minderheit darstellt. Religionswissenschaftler Zulehner und seine Kollegin Regina Polak modellierten aus dem umfangreichen Datenmaterial der aktuellen europäischen Wertestudie quer über die Konfessionen hinweg vier österreichische Glaubenstypen, in die sich die Gesamtbevölkerung einteilen lässt (siehe Grafik rechts). Ergebnis: Die mit Abstand größte Gruppe sind mittlerweile die „Säkularen“, also jene Gruppe der Atheisten und Agnostiker, die an keinen Gott glauben oder zumindest seine Existenz infrage stellen. Niko Alm, Atheist und Gründer der „Laizismus-Initiative“, möchte, dass diesem Umstand auch gesetzlich Rechnung getragen wird: „Mit zwei Millionen Mitgliedern wären wir Konfessionsfreie die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Österreich. Wir dürfen zwar nicht die Privilegien anerkannter Religionsgemeinschaften in Anspruch nehmen, müssen aber brav alles mitfinanzieren.“
Zweitstärkste Kraft bilden bereits die „Rituellen“, die als bequemes Gegengeschäft für die Kirchensteuer Rituale wie Taufe, Ehe- oder Sterbesakramente in Anspruch nehmen und formal zwar meist katholisch, real aber kaum in der Kirche sind.
Die dritte Gruppe in Zulehners Glaubensgebäude namens Österreich schließlich sind mit 21 Prozent die echten „Christen“, also jene, die an einen christlichen Gott, Himmel und Hölle glauben und oft in die Kirche gehen.
Kein Wunder also, dass die Glaubensdogmen im Alltag ohne Brille nur noch schwer auszumachen sind: Selbst in der Gruppe der „religiös überzeugten“ Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren etwa haben im katholischen Österreich 36 Prozent vorehelichen Sex. Fast jede zweite Ehe wird geschieden, fast 40 Prozent aller Kinder werden unehelich geboren; und auf rund 70.000 Neugeborene pro Jahr kommen an die 30.000 Abtreibungen.
Der einsame Christ. Ja, selbst im Kampf um das oberste Amt im Staat sind die fundamentalen Gegensätze längst verschwommen: Schickte die ÖVP vor 18 Jahren mit Thomas Klestil noch einen gestandenen Christen ins Rennen, so matchen sich mit Heinz Fischer und Barbara Rosenkranz nunmehr ein Agnostiker und eine Ex-Katholikin, beide aus der Kirche ausgetreten. Nachvollziehbar, dass der ehemalige Klestil-Sprecher Heinz Nussbaumer eine „Verdunstung des Religiösen“ beklagt. Denn: Rudolf Gehring, Chef der Splittergruppe „Die Christen“, kann in seinem Kampf um die Hofburg, im wesentlichen ein Kampf gegen die Fristenlösung, bestenfalls einen Achtungserfolg einfahren.
Doch wohin wendet sich Österreich auf seiner Kirchenflucht? Wohin führt uns die neue Glaubenssuche? Nicht sehr weit weg von den christlichen Wurzeln, aber sehr weit weg vom Klerus: Knapp jeder zweite Österreicher glaubt zwar nach wie vor an einen personifizierten Gott oder an Gott in Form eines höheren Wesens. Doch wenn es ums persönliche Seelenheil geht, vertrauen immer mehr auf ein Patchwork aus Religion und Wellness. „In der Frage der Spiritualität ist es wie im Supermarkt“, so Konrad Paul Liessmann, Vizedekan der Philosophischen Fakultät Wien, „es gibt verschiedene Angebote, aus denen sich der Mensch einfach das aussucht, was am besten zu seiner Lebensweise passt.“
Entsprechend weit reicht das Experimentierfeld zur beglückenden Zusammenführung von Körper und Geist: Es beginnt bei Yoga und führt über einen Mix aus ritueller Gymnastik und spiritueller Naturerfahrung bis zu fernöstlichen Religionen wie etwa dem Buddhismus.
Rote Erleuchtung. „Durch Yoga habe ich erstmals den Blick aufs Wesentliche bekommen“, sagt der burgenländische Nobelgastronom Walter Eselböck. „Gäbe es ein Gerät, mit dem man Gott messen könnte, so hätte man in einer Kirche weit weniger hohe Werte als im Wald“, glaubt der Kabarettist Roland Düringer, der sich vom Benzinbruder zum Garten- und Naturphilosophen wandelte.
„Als absolutem Agnostiker ist die buddhistische Lebensphilosophie von allen Religionen die, die mir am nächsten steht“, so sein streng katholisch erzogener Branchenkollege Alf Poier.
„Wir sollten eine Art Bruttonationalglück einführen, das den Wohlstand eines Landes nicht nur an seinen Wirtschaftsdaten, sondern an seinem Glück misst“, philosophiert Heinz Vettermann, Vorsitzender der SPÖ Josefstadt, der gemeinsam mit dem Unternehmer Michael Eisenriegler die Arbeitsgruppe „Red Buddha – Buddhismus & Sozialdemokratie“ ins Leben rief. Philosoph Liessmann zum Buddhismus-Trend: „Die Kirche hat strenge Gesetze und Werte, die antiquiert wirken. Deshalb wenden sich aufgeschlossene und liberale Menschen, die dennoch nicht die Kraft zu einer klar antireligiösen Haltung haben, Religionen zu, die sie weniger oder gar nicht beengen.“
Vom Beichtstuhl auf die Couch. Es ist genau dieser Weg aus der katholischen Enge, der immer mehr Österreicher vom Beichtstuhl auf die Couch führt. Ja, sie sei katholisch erzogen worden. Ja, sie habe im Kirchenchor mitgesungen. In der Kirche sei sie auf der Suche nach einem Bezug zu ihrer Lebenswirklichkeit gewesen, berichtet die Wienerin Caroline O., 32, studierte Psychologin und leitende Angestellte. „Aber die Suche nach dem Sinn des Lebens blieb, und auch eine teilweise unerklärliche Traurigkeit.“ Heute ist O. in Psychotherapie. Das sei zwar kein vollständiger Ersatz für Religion, sagt sie, „aber Therapeuten sind vielleicht die geschulteren Seelsorger“.
Vor 20 Jahren gab es in Österreich 600 geschulte Psychotherapeuten und 5.000 Priester. Heute sind es 3.000 Priester und 7.000 Therapeuten – die neuen Seelsorger im katholischen Österreich.