Die Generation Staatspleite besetzt in Spanien Plätze in 60 Städten. Report aus einer Bewegung, die aus dem Nichts kam.
Wahlabend in Spanien. Es ist Sonntag, und auf Madrids Hauptplatz Puerta del Sol stehen 20.000 Menschen, wie jeden Abend seit einer ganzen Woche. Die Hände sind erhoben, Schlüsselbunde rasseln. Im Radio werden die Wahlergebnisse der Kommunal- und Regionalwahlen durchgegeben – des Tests für die Wahlen 2013: Ein Debakel für die regierenden Sozialisten, die Konservativen gewinnen überall dazu. „Que no! Que no! Que no nos representan! Sie vertreten uns nicht!“, schallt es aus 20.000 Kehlen im Chor. „Uns ist völlig egal, wer bei den Wahlen verliert oder gewinnt“, sagt José, 25, Maschinenbauingenieur – und wie fast die Hälfte seiner Altersgenossen arbeitslos. „Das ist keine Demokratie mehr, sondern Korruption und Betrug. Wir machen da nicht mehr mit.“ Auf seinem Schild steht: „Demokratie: Bitte das Hirn am Eingang abgeben.“
Dann brandet zum ersten Mal Jubel auf: Eine Million der abgegebenen Stimmen sind ungültig – ein Rekord. „Unser Motto heißt: Wähl sie nicht“, erklärt José. „Ungültig wählen ist ein Zeichen – dafür, dass es so nicht mehr weitergeht.“
Während in Österreich Bankiers die Artikulation der grassierenden Politikverdrossenheit übernehmen, ist es in Spanien die Generation Staatspleite, die ihrem Unmut lautstark Luft macht: Seit einer Demonstration „für echte Demokratie“ am 15. Mai ist der Hauptplatz in Madrid zu einem Camp der Empörten geworden. Täglich kommen mehr zu den Versammlungen, ab Samstag ist die Puerta del Sol zu klein, die Diskussionsgruppen breiten sich mit ihren Zelten auf die umliegenden Plätze des Zentrums aus. In 60 weiteren Städten entstehen Wut-Camps, Twitter und Facebook gehen über vor Protest-Kommunikation. Eine Welle der Empörung rollt durch Spanien – und sie sieht anders aus, als es irgendwer erwartet hätte.
„Verlorene Generation.“ Manuela, 28-jährige Betriebswirtin, erklärt das Problem mit einem Schild, auf dem sie die Preise von 2001 und 2011 aufgeschrieben hat. Kaffee, Milch, Miete: Alles hat sich vervierfacht. Nur eines ist gleich geblieben – ihr Gehalt als Kellnerin von 700 Euro. Als solche arbeitet sie auch zwei Jahre nach ihrem Studienabschluss. „Der Aufschwung der Nullerjahre ist an unserer Generation völlig vorbeigegangen. Wir sind die am besten ausgebildete Generation – und die am schlechtesten bezahlte“, sagt sie. Spanien avancierte im Zuge einer gigantischen Immobilienblase zu einem europäischen Musterschüler, der satte Budgetüberschüsse schrieb. Doch als das Pyramidenspiel der Hunderttausenden leeren Wohnungen auf Kredit 2008 zusammenbrach, riss es die spanische Wirtschaft bis an den Rand des Staatsbankrotts mit. Nun werden Pensionen und Beamtenlöhne gekürzt, Spitäler und Universitäten privatisiert, Sozialleistungen gestrichen. „Für uns hat der Aufschwung geheißen: 1.000-Euro-Jobs und wohnen bei den Eltern, weil sich keiner mehr die Mieten leisten kann“, sagt Manuela. „Jetzt sollen wir auch noch für eine Krise zur Kasse gebeten werden, an der sich Banken, korrupte Politiker und Baukonzerne dumm und dämlich verdient haben? Nein danke!“ Auf dem T-Shirt ihrer Nachbarin ist die Analyse kurz zusammengefasst: „Es ist keine Krise, es ist Betrug. Sollen doch die Banker dafür zahlen.“
„Echte Demokratie – jetzt.“ Krise und Jugendarbeitslosigkeit wären genug, um die Jugend auf die Straße zu treiben – wie in Athen oder Frankreich, wo Anarchos Fenster einschlagen und Gewerkschaften gegen die Regierung marschieren. Aber der Protest in Spanien ist anders. Kein einziger der 20.000 Menschen auf dem Platz trägt ein Schild mit dem Logo einer Organisation. Keine einzige Partei oder Gewerkschaftsfahne unterbricht das Bild der selbst gemalten Schilder. Plötzlich schwenkt ein einzelner Vertreter der Studentendemonstration die Fahne seiner linken Fraktion. „Wir bitten dich höflich, den Platz zu verlassen“, schallt es ihm umgehend durch das Megafon entgegen. „Wir wollen hier keine Gewerkschaften und keine Politiker. Als Einzelperson bist du willkommen. Als Vertreter nicht.“ Anselma Malbuena, 52-jährige Putzfrau, applaudiert: „Wenn hier eine Partei oder Gewerkschaft dabei wäre, dann wäre ich nicht hier: Von der Politik habe ich die Schnauze voll. Allein jetzt auf den Wahllisten stehen 123 Politiker, die der Korruption beschuldigt sind.“ Sie kampiert als eine der älteren Frustrierten seit einer Woche auf dem Platz. Die älteste Besetzerin ist 73 – und demonstriert zum ersten Mal in ihrem Leben.
Das politische Establishments Spaniens blickt ratlos auf diese Bewegung ohne Logos und ohne Köpfe: Keine Organisation steht dahinter, kein Geld, keine Medien. Sie scheint aus dem Nichts gekommen zu sein. „Europas Tahrir-Platz“, titelten US-Medien wie die „New York Times“ bereits. Doch wer hat diese Bewegung gestartet? Wie sind all diese Menschen, die die Nase voll von Politik haben, zu so einer politischen Bewegung geworden?
Der Anwalt als Revolutionär. „Ich bin selbst erstaunt, was aus unserem Aufruf geworden ist“, grinst Fabio Gándara euphorisch – ein junger Anwalt, 26 Jahre alt, ordentlich gebügeltes Polohemd und schicker Bart. Nicht das, was man sich gemeinhin unter einem Revolutionär vorstellt – und doch einer der Köpfe der Bewegung: Er hat im Jänner gemeinsam mit einem Architekten und einem Grafiker den ersten Aufruf auf Facebook gestartet. Im März trafen sich ein paar Mitglieder zum ersten Mal im echten Leben – keiner davon war bisher politisch aktiv. „Wir hatten nur eine Demonstration für echte Demokratie im Kopf. Schon dass die am 15. Mai so gut gelaufen ist, hat uns fast umgehauen. Wir haben offenbar einen Nerv getroffen.“
An den Demonstrationen des 15. Mai nehmen Zehntausende teil, und nach der Schlusskundgebung in Madrid auf der Puerta del Sol beschließt ein Grüppchen von zwei Dutzend, über Nacht zu bleiben. Am Montag räumt die Polizei den Platz. „Die wussten nicht, was sie sich damit einhandeln“, sagt Fabio. „Ab da ist es richtig losgegangen.“
Tag für Tag steigt die Zahl der Menschen, #spanishrevolution wird zu einem der zehn meistgenannten Begriffe auf Twitter – weltweit. Vor dem Wahlwochenende besetzen Zehntausende in 60 Städten die Hauptplätze und trotzen dem Demonstrationsverbot der Wahlbehörde. Die Regierung steht vor einem Dilemma: Eine Räumung würde die Proteste explodieren lassen. Also zieht sich die Polizei zurück. Aus der Demonstration ist eine Bewegung geworden.
In der Revolution auf der Puerta del Sol ist mittlerweile Alltag eingekehrt. Schlafsäcke werden gelüftet, Essen wird verteilt, das Protestcamp hat nun einen Kindergarten, ein Krankenzelt und eine Bibliothek. Eine „Respektkommission“ löst Konflikte, die „Infrastrukturgruppe“ verkabelt die kleine Zeltstadt. Rund um die Uhr finden Diskussionen zu „echter Demokratie“ statt. Die Ziele der Bewegung? Tausende und keines – noch in Verhandlung. Der weitere Plan? Weiß man noch nicht. „Wir bleiben mal bis nächstes Wochenende, da finden in mehreren Hundert Vierteln und Orten Versammlungen statt. Und dann sehen wir weiter“, sagt eine der rotierenden Sprecherinnen. Der Platz füllt sich schon wieder. Es sind wieder mehr als gestern.
Es ist Mitternacht, die Glocke der großen Kirche auf der Puerta del Sol läutet zwölf Mal. Auf dem Platz sind 40.000 Hände in die Luft gestreckt. „Stummer Schrei“ heißt das Ritual, das sich seit der versuchten Räumung als pazifistische Antwort auf die Polizei etabliert hat. Der zwölfte Schlag verhallt, die Menge bricht in Jubel aus: Wieder ein Tag, wieder mehr Menschen, wieder keine Räumung. Polizist Paco Alcantara, der seit Tagen auf dem Platz Dienst schiebt, hofft, dass das so bleibt. „Unsere Gewerkschaft hat sich mit dem Protest solidarisiert. Auch wir haben die Schnauze voll von der Politik. Wenn ein Räumbefehl kommt, dann müsste ich kündigen.“