USA: Mit Vollgas gegen die Wand

US-Schuldenkrise. Die USA verlieren in wahltaktischen Spielchen ihre Glaubwürdigkeit als Weltwirtschaftsmacht. Erschienen in News 30/11

Freitagnachmittag, der heißeste Tag des Jahres in New York City. Draußen auf der Wall Street versinken Stöckelschuhe im weichen Asphalt, drinnen an der Bar des Cipriani’s, After-Work-Treffpunkt der Finanzhaie, frösteln die Banker in ihren Maßanzügen – und das liegt nicht nur an der rabiaten Klimaanlage. Der große Flachbildschirm an der griechisch dekorierten Wand zeigt einen Countdown: 10 Tage, 6 Stunden, 24 Minuten bis zum Bankrott der USA, der größten Volkswirtschaft der Welt. Denn bis 2. August müssen sich der demokratische Präsident Barack Obama und die republikanische Mehrheit im Kongress geeinigt haben, die gesetzlich festgelegte Schuldengrenze von 14,3 Billionen Dollar anzuheben – oder die USA können ihre Rechnungen nicht mehr zahlen.

„Bis heute haben wir noch Witze darüber gemacht, dass wir bald Griechenland sein werden“, sagt Jonathan Liu, Investement-Banker bei einem Wall-Street-Platzhirschen. „Aber jetzt wird es ernst.“ Soeben sind Barack Obama und John Boehner, republikanischer Sprecher des Repräsentantenhauses, ohne Ergebnis auseinandergegangen und haben der Wall Street einen Wochenend-Schock verpasst. „Wenn sie sich bis Montag nicht einigen, ist das ein fatales Signal“, seufzt Harry Martinez, 29 und Millionär. Er ist bei einem großen Hedgefonds für Staatsanleihen zuständig. „Das heißt Büro statt Strand am Wochenende.“

Vor dem Zocken auf den Dollar wird aber noch an der Bar gewettet. Nur einer – der Hedgefonds-Trader – wettet darauf, dass auch am Montag noch keine Einigung über das Budget da sein wird. Er sollte Recht behalten: Das Treffen zwischen Präsident und Kongress am Samstag scheitert nach 50 Minuten, die Gespräche am Sonntag verlaufen ohne Ergebnis, der Montag geht vorbei. Die USA fahren mit Vollgas auf die Wand zu – und scheinen die Bremse nicht zu finden. „Sie wollen offenbar erst die Notbremse ziehen, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit verspielt haben“, sagt ein Analyst.

Spiel mit dem Feuer. Dabei ist das Datum seit langem bekannt, und der Stein des Anstoßes – die Anhebung der Schuldenobergrenze – nichts Ungewöhnliches. Die großen Konjunkturpakete nach der Krise 2008 müssen bezahlt werden, die Wirtschaft zog nicht so an, wie sich Präsident Obama das erhofft hatte. Im Juni reduzierte der Währungsfonds seine Wachstumsprognose für die USA auf magere 2,5 Prozent, die Arbeitslosigkeit liegt immer noch bei 9,2 Prozent – 2007, vor der Krise, waren nur 4,6 Prozent arbeitslos. Während Wall Street wieder satte Gewinne schreibt, ist Main Street – die Chiffre für die hart arbeitenden Durchschnittsamerikaner, für die Obama angetreten ist – weiter auf Jobsuche (s. Kasten links).

Die USA haben für solche Krisen eine erprobte Methode: Schulden und Konsum. Schon nach der Krise Anfang des Jahrtausends stieg das Defizit ebenso rasant wie die Kreditkartenschulden und Hypotheken der Amerikaner, 2009 butterte Obama fette 790 Milliarden Dollar in die Wirtschaft. Probleme, Gläubiger zu finden, gab es noch nie: Die Staatsanleihen der größten Volkswirtschaft der Welt gelten als bombensichere Investition. Doch nun steht diese Glaubwürdigkeit erstmals auf dem Spiel.

High Noon in Washington. Doch genau dieser Verlust an Glaubwürdigkeit scheint das Ziel der Republikaner zu sein. Vordergründig dreht sich der Streit um die Art, wie das Budget saniert werden soll: Die Demokraten wollen Steuer-Ausnahmen für Reiche und große Konzerne streichen. Die Republikaner hingegen wollen keine neuen Steuern, dafür aber demokratische heilige Kühe wie Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen bluten lassen (s. Grafik). Im Senat hat eine „Gang of Six“ aus Mitgliedern beider Parteien bereits einen Kompromiss vorgelegt. Trotzdem zieht sich der Streit seit November letzten Jahres – um nun auf einen High Noon zuzusteuern, der nicht mehr viel mit Schulden zu tun hat.

Die Kontrahenten: John Boehner, republikanischer Sprecher des Repräsentantenhauses, und der Präsident selbst. Der Hintergrund: Die Wahlen im November 2012. Barack Obama braucht, um wiedergewählt zu werden, ein ruhiges Jahr 2012 – dazu muss er jetzt ein Budget schnüren, das bis über seine Amtsperiode hinaus reicht und die Chance birgt, dass sich die Wirtschaft 2012 erholt und die Arbeitslosenrate auf unter acht Prozent sinkt. Die Republikaner hingegen brauchen einen schwachen Amtsinhaber. Ihre Taktik: Nein zu sagen, solange es nur irgendwie geht – um dann, kurz vor dem Staatsbankrott, einer Zwischenlösung zuzustimmen. Auf diese Weise bleibt der Präsident erpressbar. Die Republikaner können den Budgetstreit bis zu den Wahlen ziehen – und den Wählern alle paar Monate vorführen, dass der mächtigste Mann der Welt nicht einmal die Macht hat, einen Routineschritt in Budgetfragen zu setzen. Anstatt das Problem der Schuldenobergrenze diskret im Hinterzimmer zu lösen, präsentieren sie die USA deshalb nun als Land, das führungslos in den Bankrott taumelt.

Hoher Preis für kleine Spielchen. Der Preis für die taktischen Spielchen ist hoch: Standard & Poor’s hat angekündigt, das Rating der USA zu senken, sollte kein langfristiger Plan zustande kommen. Der Internationale Währungsfonds warnt vor den globalen Folgen: „Ein Downgrade wäre sowohl für die USA als auch für den Rest der Welt sehr schädlich“, sagt Rodrigo Valdes, IWF-Sprecher. „Das ist neues Territorium – niemand kann die Folgen abschätzen.“ Er rechnet mit steigenden Zinsen, sinkendem Dollar und einer Kreditklemme.

Präsident Obama rettet sich angesichts des Patts in eine Fernsehansprache: In einer 15-minütigen Rede an die Nation forderte er am Montag die Amerikaner auf, ihren Kongressabgeordneten ihre Wut mitzuteilen. „Zum ersten Mal in der Geschichte steht das Triple-A-Rating der USA auf dem Spiel. Wir riskieren eine tiefgreifende Wirtschaftskrise – hausgemacht in Washington.“ Der Schritt sollte wohl Leadership ausdrücken. Der Effekt war jedoch ein gegenteiliger: Im Fernsehen sah man einen Präsidenten, der die Macht über sein Budget verloren hat. Und auch wenn der Kongress vor dem 2. August die Notbremse finden wird: In Sachen Glaubwürdigkeit rasen die USA damit weiter mit Vollgas gegen die Wand.

Der Einzige, den das freut, ist Hedgefonds-Trader Martinez, der im Cipriani’s sein Glas auf die Republikaner hebt. Nicht nur, dass sie ihn vor höheren Steuern bewahren: Martinez hat auf einen fallenden Dollar gesetzt – und dank John Boehner hoch gewonnen.