Der Aufschwung ist zaghaft, das Wachstum will nicht kommen. Aber geht es einfach auch ohne Wachstum? Experten sagen: Ja. Die Rezepte – von mehr Freizeit bis zu einem neuen Geldsystem.
„Wer an die Möglichkeit eines ständigen Wirtschaftswachstums glaubt, ist entweder ein Narr oder ein Ökonom“, donnert Manfred Max-Neef aus Chile, selbst Ökonom und Träger des Alternativen Nobelpreises, vom Podium. Zwischenapplaus unterbricht seine Rede. Wir befinden uns weder auf einem Ökokongress noch im besetzten Audimax einer Universität, sondern in einem Glaspalast auf der Wiener Donauplatte. Das applaudierende Publikum trägt Anzug und Krawatte, eingeladen hat die Wirtschaftskammer – genauer die Fachgruppe Unternehmensberater und IT. „Wir müssen uns schon heute überlegen, wie wir nach der Krise zu einem nachhaltigeren Wirtschaften kommen“, sagt deren Vorsitzender, Friedrich Kofler, der Max-Neef eingeflogen hat. Der Abend kratzt an einem Tabu. Er stellt den bestimmenden Faktor unseres Wirtschaftssystems infrage: das Wachstum. Das erscheint gerade in der Krise seltsam: Auch 2010 pumpen die Regierungen der Welt um die zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in Konjunkturpakete, die Rettungspakete für die Bankenwelt haben bis September ein Ausmaß von 17 Billionen Dollar angenommen – mit nur einem Ziel: das Wachstum wieder anzukurbeln. Doch während die Politik wie ein Kaninchen vor der Schlange auf die neuen Aufschwungszahlen starrt und auf Zehntelprozentpunkte Zuwachs hofft, wird parallel intensiv an einem neuen Modell gearbeitet: an einer Gesellschaft, die ohne Wachstum auskommt – aber trotzdem nicht auf Wohlstand verzichten muss.
Alternativen zum BIP
Die Diskussionen darüber sind mittlerweile in den Zentren der Macht angelangt. Die EU-Kommission präsentierte im September ein Grundsatzpapier mit dem Titel „Jenseits des BIP“, das neue Arten vorschlägt, wie gesellschaftlicher Wohlstand zu messen sei: Waren in der (immer noch gültigen) Lissabon-Strategie noch drei Prozent Wirtschaftswachstum als höchstes Ziel angesetzt, sollen in der EU nach 2010 Umwelt und Lebensqualität denselben Status wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) erhalten. „Wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir zunächst unsere Sichtweise von der Welt verändern, und hierfür müssen wir über das BIP als Maßstab hinausgehen“, erklärte Kommissar Stavros Dimas bei der Präsentation. In Frankreich hat Präsident Nicolas Sarkozy die Diskussion schon 2007 angestoßen und hochrangig angesetzt: Die Kommission, die Alternativen zum reinen BIP-Wachstum entwickelte, wird von gleich zwei Wirtschaftsnobelpreisträgern geleitet. Joseph Stiglitz und Amartya Sen geißeln im Abschlussbericht, den sie im September vorlegten, die Wachstumsgläubigkeit der Politik: Ein großer Teil der Wirtschaftskrise sei auf die Behandlung des BIP als Fetisch zurückzuführen. Sie schlagen neue Maßzahlen vor. „Was man misst, bestimmt, was man tut“, sagt Stiglitz. Und auch Englands Premier Gordon Brown lässt sich von der „Sustainable Development Commission“ erklären, wie Wohlstand ohne Wachstum funktionieren kann. Einfach ist das nicht: Der Zwang zum Wachstum ist im derzeitigen Wirtschaftssystem eingebaut.
Wachstum muss sein
Denn selbst wenn der Bedarf an Gütern sinkt, müssen Unternehmen wachsen. Die Autoindustrie hat das in der Krise deutlich vor Augen geführt. Opel etwa kann es sich nicht leisten, einfach hunderttausend Autos weniger zu produzieren, weil die Nachfrage fehlt – die Optionen lauten nur: wachsen oder weichen. Die Produktivität jedes einzelnen Arbeitsplatzes muss stetig steigen – sonst wird das Unternehmen nicht ein bisschen kleiner, sondern von der Konkurrenz aus Ländern mit billigeren Löhnen weggewischt. Zugleich bleibt die Arbeitszeit aber unverändert – und das bedeutet: Allein um die Arbeitsplätze zu halten, ist Wachstum notwendig. Kein Wachstum, keine Arbeit; keine Arbeit, kein Konsum; kein Konsum, noch weniger Wachstum. Zweitens arbeitet die Wirtschaft auf Pump: Unternehmen investieren auf Kredit. Damit sie Zinsen zahlen und Gewinne machen können, müssen sie zwangsläufig wachsen – sonst werden sie von Konkurswellen weggefegt. Und da das Risiko dank der modernen Finanzinstrumente über den ganzen Globus verteilt ist, trifft das auch gleich die Finanzmärkte im Kern. Kurz: Entweder die Weltwirtschaft wächst – oder sie bricht zusammen. Deshalb bleibt der Politik gar nichts anderes übrig, als Geld – geliehen von den Finanzmärkten – in die Konjunktur zu pumpen und damit die Spirale am Laufen zu halten.
Klimawandel schärft Bewusstsein
Nicht erst seit der Krise mehren sich die Zweifel an diesem System: Denn der Wachstumsglaube hält nicht, was er in Nachkriegszeiten einmal versprach. Die Arbeitslosigkeit stieg in den meisten Ländern auch in den Boomzeiten der 2000er-Jahre an. Die breite Bevölkerung erlangte nicht mehr Wohlstand – die Reallöhne sind in den letzten Jahren in ganz Europa gesunken. Und der Klimawandel schärft das Bewusstsein dafür, dass Wirtschaftswachstum auf Kosten von Umwelt und künftigen Generationen erkauft wird: Wachstum braucht Ressourcen – und die gehen zur Neige. Das gilt nicht nur für fossile Brennstoffe. „Wir sprechen nicht mehr von Peak Oil, sondern von Peak Everything: Auch bei vielen Metallen, Gas und Getreide ist die maximale jährliche Nutzung überschritten“, sagt Richard Heinberg.Dazu kommt: Wachstum macht nicht mehr glücklich. Stieg die Zufriedenheit der Europäer bis Mitte der 1970er kontinuierlich an, so ist sie seither gleich geblieben. Damals war die Wohnfläche noch um ein Drittel kleiner, man hatte bestenfalls ein Auto statt zwei, und das Familieneinkommen war nur rund halb so hoch. Doch scheint es einen Punkt in der Gesellschaft zu geben, an dem „Mehr“ nichts mehr bringt – und Qualität in den Vordergrund rückt.
Auswege aus dem Wachstumszwang
Das gilt auch für ganze Wirtschaften: Sind sie einmal gesättigt, wachsen sie kaum mehr. Das Institut für Wachstumsstudien in Gießen hat 21 entwickelte Volkswirtschaften untersucht und festgestellt: In 15 davon sinken die Wachstumsraten kontinuierlich – darunter auch Österreich.
Die Versuche, das Wachstum aufrechtzuerhalten, werden angesichts dieser programmierten Flaute immer verzweifelter – bis hin zu Verschrottungsprämien, die die Vernichtung funktionierender Autos fördern, damit neue verkauft werden können. Doch sie können nicht über eine Tatsache hinwegtäuschen: „In den alternden, gesättigten Volkswirtschaften Europas ist das Potenzial für Wachstum ausgeschöpft“, sagt Fritz Hinterberger vom Institut SERI (Sustainable Europe Research Institute), das gemeinsam mit drei Ministerien, der Nationalbank und der Bank Austria am 28. Jänner zur Konferenz „Wachstum im Wandel“ in Wien lädt. Die Frage, die dort beantwortet werden soll: Wie kann man dem Wachstumszwang entkommen?
1. Arbeitsplätze ohne Wachstum
Die größte Herausforderung sind Jobs. Eine nicht neue Lösung, die einfach klingt, aber schwierig umzusetzen ist: Die Arbeitszeit pro Kopf muss verkürzt werden – und zwar ohne Lohnausgleich. Damit zwingt nicht jede Produktivitätssteigerung zur Erhöhung des Umsatzes. „Die Studien zur Zufriedenheit zeigen, dass materieller Wohlstand alleine ohnehin nicht genügt – sondern Freizeit, Zeit für die Familie und für ehrenamtliche Arbeit immer wichtiger werden“, sagt Hinterberger. Die Modelle: Teilzeitarbeit, Karenz und Auszeiten für Bildung – zugleich aber eine längere Lebensarbeitszeit. Diese Art der Arbeitszeitverkürzung ist in der Krise schon erprobt worden: In Deutschland und Österreich half Kurzarbeit, Arbeitsplätze trotz schrumpfender Umsätze zu erhalten. Noch mehr Erfahrungen haben die Niederlande. Dort ist der Arbeitsmarkt sehr flexibel – geschützte Vollzeitarbeitsplätze sind schon eine Ausnahme, das Wechseln zwischen Vollzeit, Teilzeit und Auszeiten ist zur Normalität geworden. Der Erfolg ist messbar: Die Niederlande haben die Krise mit der niedrigsten Arbeitslosenrate überstanden. In der neu gewonnenen Freizeit wird übrigens ebenfalls Wohlstand geschaffen – nur ist der im BIP nicht enthalten. Deshalb, so die Apologeten der neuen Arbeitswelt, sollen ehrenamtliche Tätigkeiten und Familienarbeit in einer Gesellschaft höher bewertet werden.
2. Ressourcenverbrauch statt Arbeit besteuern
Damit Unternehmen dem Zwang entkommen, ihre Produktivität über Gebühr zu erhöhen, muss auch das Steuersystem umgebaut werden. „In Gesellschaften, in denen es aus ökologischen und sozialen Gründen besser wäre, das Wachstum still zu halten, ist diese dauernde Produktivitätssteigerung ein Unsinn“, sagt Ernst Ulrich von Weizsäcker (siehe Interview). Die Lösung: Die Lohnnebenkosten und die Besteuerung von Arbeit sollten gesenkt und dafür die Steuern auf Ressourcen wie Energie kräftig angehoben werden. Damit werden zugleich Jobs erhalten und umweltschädigendes Wachstum eingeschränkt. In Österreich hat sich das ÖVP-nahe Ökosoziale Forum diesen Umbau des Steuersystems auf die Fahnen geschrieben – und auch gleich die Verteilung des Wohlstandes mitgedacht: In einem neuen Grundsatzpapier, das gemeinsam mit dem WIFO ausgearbeitet wurde, fordert das Institut rund um Franz Fischler auch höhere Steuern auf Vermögen. „Wachstum ist ja vor allem notwendig, weil sonst auffällt, dass sich immer weniger Menschen immer mehr vom Kuchen nehmen“, sagt auch Ferdinand Lacina von der SPÖ. „Weniger Wachstum führt daher zu sozialer Unruhe, wenn nicht umverteilt wird.“
3. Werte statt schneller Gewinne
Hans Christoph Binswanger, emeritierter Professor der Universität Sankt Gallen, schlägt vor, die Strukturen der Unternehmen zu verändern: Das Modell der traditionellen Aktiengesellschaft hat seiner Meinung nach ausgedient. „Die Rechtsform der Aktiengesellschaft hat den Wachstumszwang mit eingebaut“, sagt der Ökonom. Stattdessen sollten möglichst viele Unternehmen in Stiftungen umgewandelt werden, in deren Gründungsurkunde nicht nur Gewinn, sondern auch ökologische und soziale Aspekte als Ziele vorgegeben sind. Damit könnte auch die Diskrepanz zwischen Manager- und Arbeitergehältern gemindert werden, meint Binswanger – und damit eine weitere Triebfeder des Wachstumszwangs verschwinden.
4. Ein neues Geldsystem
Doch das alles nützt nichts, wenn das Finanzsystem, das die Realwirtschaft mit hohen Renditeerwartungen treibt, nicht reformiert wird. Auch hier kommt ein Vorschlag von Binswanger, und der ist radikal: Er plädiert für das „100-Prozent-Geld“. Binswanger: „Damit erhalten die Zentralbanken das ausschließliche Recht zur Geldschöpfung – die Banken müssten jeden Kredit durch Guthaben bei der Zentralbank decken.“ Das würde zwar bedeuten, dass wesentlich weniger Kredite vergeben – und weniger Gewinne gemacht – werden. Aber dafür wächst die Sicherheit. Binswangers Überlegung: „Dieses System schränkt nicht nur den Wachstumszwang ein, sondern hilft auch dabei, das Finanzsystem stabil zu halten. Wie notwendig das ist, hat die Krise gerade gezeigt.“
5. Fortschritt neu messen
Chancen auf Veränderungen bestehen nur, wenn das BIP als entscheidende Maßzahl für gesellschaftlichen Fortschritt abgelöst wird. Die Bemühungen der OECD, der EU und der Stiglitz-Kommission zielen daher vor allem darauf ab, neue Indikatoren zu finden, die das Wachstum in den Hintergrund rücken lassen. „Das BIP ist eine wirklich armselige Größe, um den Fortschritt einer Gesellschaft zu messen“, sagt Stiglitz. Doch trotz des mehrere Hundert Seiten langen Reports seiner Kommission ist der Modus, wie Umwelt und Soziales mit eingerechnet werden sollen, noch unausgereift. Die EU-Kommission arbeitet ebenfalls noch daran – ein Index zur Messung von Lebensqualität soll in diesem Jahr vorgestellt werden. Anleihen könnte sie in einem weit entfernten, kleinen Entwicklungsland nehmen: Das Königreich Bhutan hat das BIP als Maßzahl für Wohlstand schon lange verworfen. Seit 1972 wird das „Brutto-Sozialglück“ gemessen.