Der EU-Kraftakt. Der Euro am Abgrund – wie wir ihn jetzt stützen & wem die Hilfsmilliarden nützen. Das EU-Ranking. Wer casht, wer crasht – die Union im Economy-Check: alle Daten, alle Fakten. Die EU-Kampfzone. Wo Europa brennt – so ticken Athens Anarchos: ihre Pläne, ihre Opfer, der Report. Der EU-rlaub. Rezession statt Retsina, Buchungsstopp für Griechenland: Lokalaugenschein auf Kreta. Von C. Milborn, T. Duffek, D. Hell, K. Kuch (Brüssel). NEWS Nr. 19/10 vom 12.05.2010.
Ich hoffe, dass alle die Dramatik der Situation begriffen haben.“ Finanzminister Josef Pröll (ÖVP) war Sonntag zu Mittag beim Flug zum EU-Finanzministergipfel in Brüssel besorgt: „Einigkeit“ war angesagt, denn der Euro stand an der Kippe. In solch explosiven Situationen seien selbst die kleinsten Signale wichtig: „Wenn diese Sitzung bis weit nach Mitternacht dauert, könnte das von den Märkten als schlechtes Signal gewertet werden.“
Erst 14 Stunden später, um 2.13 Uhr morgens, war es dann endlich so weit: Pröll konnte den mitgereisten Journalisten die Einigung der EU-Finanzminister verkünden. 750 Milliarden Euro schwer wird der Schutzschirm für den Euro. Trotz der enorm langen Sitzungsdauer stand damit fest: Der Euro ist – vorerst – gerettet. Spät, aber doch.
„Das war ein brutales Match mit den Deutschen.“ Zuvor wurde hinter verschlossenen Türen stundenlang gefeilscht. Wobei sich die Dramatik ständig weiter zuspitzte: Zuerst fiel Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble mit einem allergischen Schock aus und wurde ins Spital gebracht. Deutschlands Innenminister Thomas de Maizière wurde eilends eingeflogen.
Er hatte prompt einen harten Job zu übernehmen. Kleine Länder – allen voran Österreich – wollten verhindern, dass der Großteil der Finanzierung über Kredite läuft. Statt mit prompt schuldenwirksamen Krediten den Schutzschirm für den Euro zu basteln, beharrten sie auf Haftungsübernahmen, die budgetär nicht unmittelbar wirken.
Zudem: Die angeschlagenen Spanier und Portugiesen standen im Visier der Zahler. Beide wehrten sich vehement gegen die Forderung, sofort fixe Zahlen und Zeitpläne über zusätzliche, schnell umzusetzende Sparpläne in das Verhandlungspapier zu schreiben.
Erst kurz nach zwei Uhr war die Sitzung endlich vorbei. Am Ende stand ein Kompromiss: Spanien und Portugal müssen erst nächsten Montag, beim nächsten EU-Finanzministertreffen, konkrete Zahlen über zusätzliche Sparpläne abliefern. Und die „Kleinen“ bekommen ihre Forderung erfüllt: Statt mit Krediten wird der Schutzschirm auf Haftungszusagen aufgebaut. So fließt zunächst kein echtes Geld – erst, wenn ein Land tatsächlich in den Bankrott rutscht, muss gezahlt werden. Dennoch steigt die EU mit nie da gewesener Finanzkraft direkt zu den Spekulanten in den Ring und hält gegen jene, die auf den Bankrott setzen.
Freilich: Die technische Umsetzung dieses komplizierten Konstrukts (s. Grafik) ist bisher unbekannt.
Zerreißprobe für die EU. So ganz nebenbei hat die EU in dieser langen Nacht der Euro-Rettung einige ihrer Grundsätze über Bord geworfen. Die Folge: Der harte Euro ist Geschichte, die Europäische Zentralbank kauft erstmals in großem Stil die Staatsanleihen gebeutelter Euro-Länder auf. Vor allem die Deutschen warnen vor Inflation. „Diese Gefahr sehe ich nicht. Die Amerikaner und die Briten lassen ihre Notenbanken schon lange zugunsten ihrer Wirtschaft eingreifen“, beschwichtigt Ex-Finanzminister Ferdinand Lacina.
Alleingänge einzelner Staaten – ob reich oder arm – wird es in Zukunft auch nicht mehr geben: Von nun an sind alle für alle verantwortlich.
Das stellt die EU nun vor eine Herausforderung: Entweder sie entwickelt eine gemeinsame Wirtschaftspolitik – oder sie steht jedes Mal, wenn der neue Rettungsschirm verwendet wird, vor einer Zerreißprobe, bei der die Bürger der reichen Länder den Austritt fordern und jene der Armen gegen die Sparpakete protestieren.
„Diese Krise ist für die EU existenziell“, sagt Ex-Vizekanzler Erhard Busek. „Es ist unmöglich, dass Entscheidungswege so lange dauern wie in den vergangenen Wochen. Wir brauchen jetzt eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik. Im Moment driftet die EU leider eher auseinander – und das kostet uns zig Milliarden.“
Für das Verhalten der österreichischen Regierung findet Busek harte Worte: „Die EU-Skepsis ist unberechtigt, doch die Politik vermittelt diese Botschaft nicht. Das ist fahrlässig und sogar kriminell.“
Die Krise ist nicht überstanden. Doch bevor die EU-Staaten nun Wirtschafts- und Finanzkompetenzen nach Brüssel übergeben, muss die Euro-Krise überwunden werden: Denn das 750-Milliarden-Paket hat zwar die Finanzmärkte beruhigt – doch es hat dem Euro nur eine Atempause verschafft. Die Wirtschaftsmedien, wichtige Gradmesser für Anlegerverhalten, reagierten auf das Paket verhalten.
„Die EU hat sich nur ein bisschen Zeit gekauft, um die Unordnung in der Euro-Zone zu sortieren“, sagt Wolfgang Münchau, Autor und ehemaliger Chefredakteur der „Financial Times Deutschland“. „Der echte Test kommt erst.“
Denn nach den üppigen Bankenrettungspaketen 2008, einer Konjunkturspritze von 200 Milliarden Euro 2009 und einer scharfen Rezession steht den Staatshaushalten das Wasser bis zum Hals. Das Rettungspaket kann die Spekulation gegen die Euro-Staaten eindämmen. Doch die grundlegenden Probleme bleiben: Nach wie vor stehen mindestens fünf Euro-Staaten an der Kippe zur Zahlungsunfähigkeit. Ein Finanzcheck mit den wichtigsten Daten gibt Aufschluss darüber, wer in Europa casht und wer crasht (s. Tabelle rechts). Die EU-Sorgenkinder sind weiterhin Griechenland sowie Portugal, Italien und Irland – und allen voran Spanien.
Das Land ist nach dem Zusammenbruch einer gigantischen Immobilienblase in die Rezession gerutscht – und auch wenn die Staatsfinanzen dank der Überschüsse in den Boomjahren nicht so schlecht aussehen: Der private Sektor und die Haushalte sind extrem überschuldet, die Kredite mit Häusern besichert, deren Wert ständig fällt. Spanien hat nun etwas Zeit gewonnen – doch gerettet ist es nicht.
„Es wird den EU-Ländern trotz des Euro-Rettungspakets nichts anderes übrig bleiben, als zusätzlich Geld über die spanische Notenbank laufen zu lassen oder direkt Papiere von spanischen Unternehmen zu kaufen“, sagt Ex-Finanzminister Ferdinand Lacina. „Spanien ist ein großes Land, in dem Deutschland und Frankreich stark investiert haben. Wenn die Banken insolvent werden, löst das einen Schneeballeffekt wie bei der Lehman-Pleite aus.“
Spanien an der Kippe. Ein zweites Griechenland sei zwar nicht zu befürchten, meint Margit Schratzenstaller, Wifo-Expertin für Konjunkturdaten: „Griechenland ist ein Sonderfall.“ Dennoch – Spanien stand im Vorjahr weit schlechter da als Griechenland. „Ob die Illiquidität über die Iberer hereinbricht, hängt letztlich vom Vertrauen und der Laune der Investoren, Banken und Spekulanten ab. Alle EU-Länder müssen sich jetzt glaubwürdig um fiskalische Disziplin bemühen.“
Spanien und Portugal, die wohl als Erste den neuen EU-Rettungsschirm in Anspruch nehmen werden, müssen damit sofort starten: Schon für nächsten Montag erwarten die EU-Finanzminister ein hartes Sparpaket. Die anderen Staaten Europas werden folgen. In Österreich schlagen nun selbst führende ÖVP-Politiker vor, alle Tabus für Steuern zu brechen (s. Interview mit Außenminister Spindelegger S. 28). Nachdem es im Vorjahr hieß, nur Massen an Geld könnten die Wirtschaft retten, wird nun das Gegenteil gefordert.
„Das ist eine wahre Kneippkur, der die Staaten hier unterworfen werden. Es ist nur zu hoffen, dass man dem Patienten genug Luft zum Atmen lässt“, sagt Lacina. Denn hinter jedem Sparpaket lauert eine Wirtschaftsflaute: Die Wirtschaft Europas hat sich von der Krise noch nicht erholt und hing am Tropf der öffentlichen Ausgaben.
Steigende Arbeitslosigkeit. Besonders gefährlich: die steigende Arbeitslosigkeit. Denn sie bedeutet, dass die wichtigste Steuerquelle austrocknet – und sie führt zu sozialer Unruhe, besonders, wenn die Jungen betroffen sind. In der EU beträgt die Jugendarbeitslosigkeit schon jetzt 20 Prozent, im Krisenland Spanien 42, in Frankreich 24 Prozent. Griechenland ist nicht das einzige Land, in dem sich der Frust der Jugend auf der Straße entlädt (s. oben).
EU-SP-Mandatar Jörg Leichtfried hat deshalb eine Initiative gestartet, die Arbeitslosigkeit in die Euro-Kriterien einzubeziehen: „Wenn eine gewisse Grenze überschritten wird, muss es Sanktionen geben.“ Bundeskanzler Werner Faymann kann diesem Ansatz viel abgewinnen. „Die Rettungsaktionen sind alle notwendig“, bestätigt der Kanzler. „Die Bevölkerung fragt sich nun aber zu Recht, ob sie auch vor Sozialabbau gerettet wird. Arbeiter, Pensionisten, die Mittelschicht haben Europa nämlich nicht in diese Situation gebracht, das waren jene, die immer mehr hochspekulative Geschäfte getätigt haben.“
Im Einklang mit seinen sozialdemokratischen Kollegen setzt Faymann – der sich in den Tagen der Euro-Rettung auffällig bedeckt hielt – nun auf Regulierungen für den Finanzmarkt: Spekulation auf fallende Kurse soll verboten werden, die Finanztransaktionssteuer und eine europäische Rating-Agentur eingeführt werden. Aber auch Konservative wie Angela Merkel und Nicolas Sarkozy unterstützen diesen Kurs.
Fragt sich nur, warum die EU bei so viel Einigkeit nicht einfach die Spekulation auf Staatsbankrotte verboten hat, anstatt ein 750-Milliarden-Euro-Paket in die Schlacht gegen die großen Finanzakteure zu werfen: Während der Finanzkrise war das Spekulieren auf fallende Kurse von Banken binnen Tagen verboten. Für Lacina ist die Antwort einfach: „Die Finanz-Lobbys sind zu stark.“ Tatsächlich haben die großen Banken seit der Finanzkrise so viel verdient wie kaum je zuvor – und das vor allem mit jenen Staatsanleihen, vor deren Absturz sie nun durch das Euro-Rettungspaket bewahrt werden.
Doch solange die Pläne zur Finanzmarktregulierung nicht umgesetzt sind, ist die Befriedung der Finanzmärkte eine Überlebensfrage für die EU – und für ihre Bürger. Wie sehr, zeigte die knappe Rettung des Euro am Wochenende. Ein hoher Mitarbeiter des Finanzministeriums, der den Rettungspoker in Brüssel mitmachte, drückte das so aus: „Hätten wir nicht vor der Öffnung der Börsen Hunderte Milliarden ins Spiel gebracht, würde am Freitag kein Geld mehr aus dem Bankomaten kommen.“