Selig ohne Kirche

Religion neu. KirchenFlucht und Glaubenssuche: Das katholische Österreich ist nur noch Fassade. Seelsorge neu. Darauf bauen wir wirklich: Therapie statt Beichte. Wellness statt Buße. Und Gott – statt Kirche. Von David Pesendorfer, Christoph Bacher, Corinna Milborn, Elisabeth Semrad. NEWS Nr. 13/10 vom 01.04.2010.

Soeben hatten sich weitere Erdmassen auf das überdimensionale Grab gebreitet, für die Verschütteten gab es kaum noch Hoffnung. Es war neun Tage vor der Auferstehung des Bergmanns Georg Hainzl, als Waltraud Klasnic am Krater von Lassing mit brüchiger Stimme und tiefer Überzeugung verkündete: „Der Herrgott hat entschieden.“

Zwölf Jahre später wurde die Entscheidung zwar zwei Etagen tiefer gefällt, aber auch heute werden rasch Zweifel laut: Zu sehr sei die ehemalige steirische VP-Landeshauptfrau und nunmehrige Chefin des „Vereins der Freunde des Prieserseminars“, die Kardinal Christoph Schönborn am Palmsonntag zur Opferschutz-Beauftragten ernannte, der Amtskirche verpflichtet, monieren Betroffene.

Dennoch geht Klasnic als erster gelungener PR-Coup im heimischen Kirchenskandal durch: 42 Prozent der Bevölkerung halten die Landesmutter a. D. für „eine gute Wahl“, 48 Prozent halten sie für „glaubwürdig“. Das ergab eine Repräsentativ-Umfrage, die OGM im Auftrag von NEWS durchführte. Doch obwohl Klasnic kommt – das öffentliche Misstrauen bleibt: 79 Prozent der Bevölkerung halten die Einrichtung einer Opferanwaltschaft zwar für prinzipiell „gut“, 70 Prozent jedoch für „nicht ausreichend“.

Die Personalie Klasnic als Oberflächenkosmetik, als Fassade. So, wie auch das erzkatholische Österreich der Gegenreformation, der Habsburger, des Ständestaates und schließlich der Allianz zwischen Bruno Kreisky und Kardinal König nur noch monumentale Kulisse ist. Eine Kulisse zwischen Mariazeller Basilika und Stephansdom, hinter der sich ein Land zwischen Kirchenflucht und Glaubenssuche völlig neu orientiert. Pastoraltheologe Paul Zulehner, emeritierter Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, gibt sich keinerlei Illusionen hin: „Noch 50 Jahre, und nur noch 30 Prozent der Österreicher sind katholisch.“

1,3 Millionen Schäfchen verloren. Der Katholizismus, ursprünglich für die Ewigkeit angelegt, ist im Land der 17.000 Sakralbauten auf dem Weg zum Minderheitenprogramm. Die Zahlen zur klerikalen Götterdämmerung: Derzeit sind 66 Prozent der Österreicher eingeschriebene Katholiken. Zum Vergleich: Im Jahr 1961, zu Beginn des Wirtschaftswunders, waren es noch 89 Prozent. Selbst 1971, in der Startphase der roten Gesellschaftsreformen, immerhin noch gut 84 Prozent. Dann der massive Abwärtstrend, den auch die rechtskonservative Wenderegierung Wolfgang Schüssels nicht stoppen konnte. Seit 1976 gingen dem Klerus fast 1,4 Millionen Katholiken verloren – da sind die knapp 60.000 Austritte des Vorjahres und jene, die den aktuellen Skandalen wie das Amen im Gebet folgen werden, nur die Spitze des Kirchturms. „Österreich wird zum Missionsland“, konstatiert der Ex-VP-Parlamentarier und Bezügekaiser Josef Höchtl, als Mitglied der katholischen Burschenschaft „Franco Bavaria Wien“ eine Art christdemokratischen Urgesteins, bitter.

Das Riten-Monopol. Zumal der aufrechte Kern des österreichischen Kirchenvolks bei streng soziologischer Betrachtung bereits jetzt eine Minderheit darstellt. Religionswissenschaftler Zulehner und seine Kollegin Regina Polak modellierten aus dem umfangreichen Datenmaterial der aktuellen europäischen Wertestudie quer über die Konfessionen hinweg vier österreichische Glaubenstypen, in die sich die Gesamtbevölkerung einteilen lässt (siehe Grafik rechts). Ergebnis: Die mit Abstand größte Gruppe sind mittlerweile die „Säkularen“, also jene Gruppe der Atheisten und Agnostiker, die an keinen Gott glauben oder zumindest seine Existenz infrage stellen. Niko Alm, Atheist und Gründer der „Laizismus-Initiative“, möchte, dass diesem Umstand auch gesetzlich Rechnung getragen wird: „Mit zwei Millionen Mitgliedern wären wir Konfessionsfreie die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Österreich. Wir dürfen zwar nicht die Privilegien anerkannter Religionsgemeinschaften in Anspruch nehmen, müssen aber brav alles mitfinanzieren.“

Zweitstärkste Kraft bilden bereits die „Rituellen“, die als bequemes Gegengeschäft für die Kirchensteuer Rituale wie Taufe, Ehe- oder Sterbesakramente in Anspruch nehmen und formal zwar meist katholisch, real aber kaum in der Kirche sind.

Die dritte Gruppe in Zulehners Glaubensgebäude namens Österreich schließlich sind mit 21 Prozent die echten „Christen“, also jene, die an einen christlichen Gott, Himmel und Hölle glauben und oft in die Kirche gehen.

Kein Wunder also, dass die Glaubensdogmen im Alltag ohne Brille nur noch schwer auszumachen sind: Selbst in der Gruppe der „religiös überzeugten“ Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren etwa haben im katholischen Österreich 36 Prozent vorehelichen Sex. Fast jede zweite Ehe wird geschieden, fast 40 Prozent aller Kinder werden unehelich geboren; und auf rund 70.000 Neugeborene pro Jahr kommen an die 30.000 Abtreibungen.

Der einsame Christ. Ja, selbst im Kampf um das oberste Amt im Staat sind die fundamentalen Gegensätze längst verschwommen: Schickte die ÖVP vor 18 Jahren mit Thomas Klestil noch einen gestandenen Christen ins Rennen, so matchen sich mit Heinz Fischer und Barbara Rosenkranz nunmehr ein Agnostiker und eine Ex-Katholikin, beide aus der Kirche ausgetreten. Nachvollziehbar, dass der ehemalige Klestil-Sprecher Heinz Nussbaumer eine „Verdunstung des Religiösen“ beklagt. Denn: Rudolf Gehring, Chef der Splittergruppe „Die Christen“, kann in seinem Kampf um die Hofburg, im wesentlichen ein Kampf gegen die Fristenlösung, bestenfalls einen Achtungserfolg einfahren.

Doch wohin wendet sich Österreich auf seiner Kirchenflucht? Wohin führt uns die neue Glaubenssuche? Nicht sehr weit weg von den christlichen Wurzeln, aber sehr weit weg vom Klerus: Knapp jeder zweite Österreicher glaubt zwar nach wie vor an einen personifizierten Gott oder an Gott in Form eines höheren Wesens. Doch wenn es ums persönliche Seelenheil geht, vertrauen immer mehr auf ein Patchwork aus Religion und Wellness. „In der Frage der Spiritualität ist es wie im Supermarkt“, so Konrad Paul Liessmann, Vizedekan der Philosophischen Fakultät Wien, „es gibt verschiedene Angebote, aus denen sich der Mensch einfach das aussucht, was am besten zu seiner Lebensweise passt.“

Entsprechend weit reicht das Experimentierfeld zur beglückenden Zusammenführung von Körper und Geist: Es beginnt bei Yoga und führt über einen Mix aus ritueller Gymnastik und spiritueller Naturerfahrung bis zu fernöstlichen Religionen wie etwa dem Buddhismus.

Rote Erleuchtung. „Durch Yoga habe ich erstmals den Blick aufs Wesentliche bekommen“, sagt der burgenländische Nobelgastronom Walter Eselböck. „Gäbe es ein Gerät, mit dem man Gott messen könnte, so hätte man in einer Kirche weit weniger hohe Werte als im Wald“, glaubt der Kabarettist Roland Düringer, der sich vom Benzinbruder zum Garten- und Naturphilosophen wandelte.

„Als absolutem Agnostiker ist die buddhistische Lebensphilosophie von allen Religionen die, die mir am nächsten steht“, so sein streng katholisch erzogener Branchenkollege Alf Poier.

„Wir sollten eine Art Bruttonationalglück einführen, das den Wohlstand eines Landes nicht nur an seinen Wirtschaftsdaten, sondern an seinem Glück misst“, philosophiert Heinz Vettermann, Vorsitzender der SPÖ Josefstadt, der gemeinsam mit dem Unternehmer Michael Eisenriegler die Arbeitsgruppe „Red Buddha – Buddhismus & Sozialdemokratie“ ins Leben rief. Philosoph Liessmann zum Buddhismus-Trend: „Die Kirche hat strenge Gesetze und Werte, die antiquiert wirken. Deshalb wenden sich aufgeschlossene und liberale Menschen, die dennoch nicht die Kraft zu einer klar antireligiösen Haltung haben, Religionen zu, die sie weniger oder gar nicht beengen.“

Vom Beichtstuhl auf die Couch. Es ist genau dieser Weg aus der katholischen Enge, der immer mehr Österreicher vom Beichtstuhl auf die Couch führt. Ja, sie sei katholisch erzogen worden. Ja, sie habe im Kirchenchor mitgesungen. In der Kirche sei sie auf der Suche nach einem Bezug zu ihrer Lebenswirklichkeit gewesen, berichtet die Wienerin Caroline O., 32, studierte Psychologin und leitende Angestellte. „Aber die Suche nach dem Sinn des Lebens blieb, und auch eine teilweise unerklärliche Traurigkeit.“ Heute ist O. in Psychotherapie. Das sei zwar kein vollständiger Ersatz für Religion, sagt sie, „aber Therapeuten sind vielleicht die geschulteren Seelsorger“.

Vor 20 Jahren gab es in Österreich 600 geschulte Psychotherapeuten und 5.000 Priester. Heute sind es 3.000 Priester und 7.000 Therapeuten – die neuen Seelsorger im katholischen Österreich.

Die Wolke

Schock. Der Berg, das Feuer, die Asche – eine Wolke bringt die Welt zum Stillstand. Crash. Millionen gestrandet, Airlines am Boden, Wirtschaft im Sturzflug. Risiko. Wo uns die Natur sonst noch weh tun kann. Von T. Duffek, D. Hell, M. Leeb, Ch. Lehermayr, C. Milborn, D. Pesendorfer, D. Schmied, H. Simons, S. Wobrazek. NEWS Nr. 16/10 vom 22.04.2010.

Sie ist nur eine von Millionen. Und wie jeder Einzelne von ihnen will sie weg – so schnell wie möglich. Eleftherios-Venizelos-Airport, Athen. Eigentlich sollte Maria Vassilakou jetzt 1.370 Kilometer weiter nördlich im Wiener Rathaus sitzen, wo der Gemeinderat tagt. Stattdessen steht die Spitzenkandidatin der Grünen in der Check-in-Halle vor dem Olympic-Airways-Schalter. Ursprünglich hätte sie ja am vergangenen Samstag fliegen sollen, dann am Sonntag, nun ist’s bereits Montag. Und wo vorgestern noch Grün war, ist heute Zornesröte. „Das Fotoshooting für unsere Wahlkampagne kann nicht länger warten, ich muss zurück …“

Nicht warten können. Weg müssen. Seit die Aschewolke des isländischen Gletschervulkans Eyjafjalla über Europa schwebt und einen Gutteil des Flugverkehrs lahmlegt, haben sich die Vorzeichen dramatisch verändert: ein Kontinent im Standby-Modus. Ein Stillstand, der Milliarden kostet. Und eine Natur, die uns zeigt, wie verwundbar wir sind – und wie unberechenbar sie sein kann.

Eben erst konnten am Dienstag 50 Prozent der Flüge wieder starten, da schwebt schon die nächste Aschewolke aus Island auf Europa zu und zwingt die britischen und skandinavischen Airports neuerdings, dichtzumachen. Wie sich die Lage weiter entwickelt, ist unabsehbar. „Es gibt kein Anzeichen, dass sich die Aktivität des Vulkans abschwächt“, berichtet der Vulkanforscher Armann Hoskuldsson von der Universität Island, der derzeit im Dauereinsatz die Feuerberge der Insel kontrolliert. „Das letzte Mal spie der Eyjafjalla gleich zwei Jahre lang und weckte seine große Schwester, den Vulkan Katla. Das kann uns diesmal auch blühen.“

Kann es also sein, dass wir in den nächsten Monaten damit rechnen müssen, dass Airports jederzeit schließen – von einem Tag auf den anderen, unabsehbar lange? Die Folge wäre wohl nichts weniger als eine grundlegende Neuordnung des Transportwesens – und damit unserer Gesellschaft.

Denn schon die tagelange Sperre des Luftraums in den letzten Tagen trifft Menschen quer durch die Bevölkerung. In Chalkidiki sitzen über tausend österreichische Pensionisten fest, die ihren Urlaub nun um eine Woche verlängern müssen. Vom Flughafen Wien-Schwechat machen sich Menschen in Sammeltaxis auf den langen Weg nach Oslo. Leichter haben es da die Briten in Frankreich und Spanien: Ihnen eilt nun die Royal Navy zu Hilfe. Drei Militärschiffe haben sich auf den Weg gemacht, gestrandete Urlauber einzusammeln – denn bei den beliebten Billigfluglinien Ryanair und Easyjet wird der Rückstand der gestrandeten Passagiere erst im Mai abgebaut sein. Vorausgesetzt, die Flughäfen bleiben überhaupt offen. (Wie Sie als Betroffener an Ihr Geld kommen, erfahren Sie im Servicekasten auf Seite 19.)

Milliardenschäden. Was für hängen gebliebene Urlauber unangenehme Verzögerungen sind, bedeutet für die Wirtschaft Milliardenschäden. Erste Geschädigte sind die Airlines. Laut Airline-Verband IATA kostet jeder Tag, an dem nicht geflogen wird, 150 Millionen Euro. Einige angeschlagene Fluglinien treibt schon der jetzige Stillstand an den Rand des Bankrotts (s. Analyse des Luftfahrtexperten Kurt Hoffmann nächste Seite). Zweite Verlierer: die Flughäfen. Allein der Flughafen Wien verliert ein bis zwei Millionen Euro pro Sperren-Tag. Der nächste große Betroffene ist die Reisebranche: Der deutsche Reiseveranstalter TUI rechnet mit Kosten von sechs Millionen Euro. Die heimische Wirtschaft ist von den Auswirkungen durch die isländische Vulkanasche noch relativ gering belastet. Christian Helmenstein, Leiter der Wirtschaftspolitik in der Industriellenvereinigung (IV): „Die Wertschöpfung der betroffenen Branchen macht höchstens 610 Millionen Euro pro Jahr aus. Die negative Fühlbarkeit ist aber höher als die tatsächlichen Wertschöpfungsverluste.“ Erst nach mehreren Tagen Sperre sei mit Nachschubschwierigkeiten für Handel und Industrie zu rechnen.

Blockade. Doch mit jedem Tag, den die Sperre andauerte, wurde klar: Es geht nicht nur um die Transportbranchen – es geht ums Ganze. Unser Wirtschaftssystem hängt am Tropf des Luftverkehrs. Der ständige Strom von Waren, den wir Globalisierung nennen, stockt. UPS karrt Tausende Luftpost-Pakete per Auto quer durch den Kontinent. Am Flughafen Heathrow verrotten in einer Lagerhalle Tonnen frischen Lachses aus Kanada, die auf dem Weg nach Japan landen mussten. In Osteuropa stocken die Fließbänder in den Fabriken der Autokonzerne, die um den Nachschub an elektronischen Teilen aus China bangen. In Kenia und Äthiopien verwelken 2,5 Millionen Blumen in den Kühlhallen der Flughäfen – bestimmt für eine Welt, die sich auf frisch eingeflogene Bouquets aus Afrika und Lateinamerika eingestellt hat. „Unsere Blumen werden täglich über Nacht mit Kühlflugzeugen nach Amsterdam geflogen und von dort über die Welt verteilt – Europa, Moskau, Tokio. Jetzt steht alles, der Verlust ist enorm. Wir sind verzweifelt“, erzählt der aufgebrachte Chef des größten Blumenkonzerns der Welt, Karuturi, am Telefon. Die Wolke aus dem kleinen isländischen Vulkan hat der Globalisierung eine Atempause verordnet, und sie vernichtet dabei Milliarden.

Stillstand ohne Grund? Kein Wunder, dass schon nach zwei Tagen die Kritik am Flugverbot unüberhörbar wurde – allen voran vonseiten der Airlines. War die Sperre berechtigt? Und müssen wir nun jedes Mal, wenn der Vulkan aufstößt, mit dem totalen Stillstand rechnen?

Der Mann, der diese Entscheidung in Österreich zu erklären hat, hat ein fernsehbekanntes Gesicht und müde Augen – und ist sicher, dass alles richtig gelaufen ist. Vor rund neun Monaten wechselte der Nachrichtenmoderator Markus Pohanka vom ORF zur österreichischen Flugsicherheitsbehörde Austro Control. Seit vergangenem Donnerstag ist der Pressesprecher rund um die Uhr im Einsatz. „Es ist eine völlig einzigartige Situation“, erzählt der 35-Jährige (s. Tagebuch übernächste Seite). Austro-Control-Vorstandsdirektor Heinz Sommerbauer ergänzt: „Die Vulkankrise hat sogar eine größere Dimension als die Terroranschläge vom 11. September, da die Aschewolke weiterzieht und ständig neu beurteilt werden muss.“

Der Grund für die drastische Reaktion der Behörde: Vulkanasche besteht aus Steinchen und Glaspartikeln. Geraten sie in die Turbinen, können sie sich als Glas ablagern. 90 solcher Zwischenfälle gab es in den letzten 30 Jahren. Doch ob es auch diesmal zu solchen gekommen wäre, ist unklar. Verkehrsministerin Doris Bures verteidigt das Flugverbot zwar vehement: „Die Entscheidung war richtig. Wirtschaftlicher Druck ist niemals wichtiger als der Schutz von Menschenleben – bei allem Verständnis für die wirtschaftliche Lage der Fluglinien.“ Doch diese sehen auch fachliche Fehler.

Nur die Briten schickten am Samstag ein Testflugzeug in die Wolke, das „starke Beeinträchtigung durch Gesteinspartikel und Glas“ meldete. Am Sonntag verkündete die NATO, ein F-16-Bomber sei nach einem Testflug über Europa mit Glasablagerungen in den Turbinen gelandet. Doch sonst blieb das Flugverbot ohne Tests aufrecht – nur eine Computersimulation des britischen Meteorologie-Instituts steuerte das Aus im Himmel. Die Deutschen starteten ihren ersten Testflug erst am Montag. „Es ist bedenklich, dass wir darüber nachdenken, zum Mars zu fliegen, aber nicht in der Lage sind, den Grad von Asche in der Luft schnell und zuverlässig zu messen“, kritisiert Leo Flammer, Pilot und Sicherheitsbeauftragter bei ACA – Verband Österreichischer Verkehrspiloten. Im Zentrum der Kritik: die Politik in Brüssel, die bei der Koordinierung versagt habe.

Langsame EU. Das mag damit zusammenhängen, dass die europäische Politik selbst Opfer der Aschewolke wurde. Im EU-Parlament in Straßburg: sämtliche Abstimmungen auf Mai vertagt. Der Gipfel mit Pakistan: verschoben. Die EU-Afrika-Konferenz in Wien: abgesagt. Und offenbar schafften auch die Verkehrsminister es kaum, sich zu koordinie-ren. Erst am Montagabend trafen sie zu einem Krisentreffen zusammen – per Videokonferenz.

Die Wolke wirft damit ein Schlaglicht auf eine europäische Absurdität: Der Flugraum des geeinten Europas ist nach wie vor Sache der Nationalstaaten. „Das Chaos der letzten Tage hat gezeigt, dass wir den gemeinsamen Luftraum dringend benötigen“, kritisiert die österreichische EU-Abgeordnete Hella Ranner. Das Parlament hat die Weichen schon vor zwei Jahren gestellt – doch bisher wollten sich die Mitgliedsländer die Kontrolle über ihren Himmel nicht nehmen lassen. Die Folge: „Die Entscheidung wurde ohne Risikoprüfung, ohne Einbeziehung der Betroffenen, ohne Koordinierung und ohne Führungskraft getroffen“, so das vernichtende Urteil von Giovanni Bisgani, Präsident des Fluglinien-Dachverbandes IATA. EU-Transportkommissar Siim Kallas gibt nun zu: „Dieses Patchwork verschiedener nationaler Entscheidungen hat den offenen Luftraum eingeschränkt. Wir brauchen eine gemeinsame europäische Politik.“ Die Verkehrsminister haben schon zugestimmt. Die Aschewolke hat das Hickhack bloßgestellt – und damit zu einem Stückchen europäischer Einheit beigetragen.

Entschleunigung. Doch die längerfristigen Auswirkungen der Wolke werden wohl tiefer in unsere Gesellschaft reichen, als uns derzeit bewusst ist. „Die Wolke ist ein massiver Weckruf. Wir haben unsere Gesellschaft auf das wackelige Fundament schnellen Verkehrs gebaut – in der hochmütigen Annahme, die Natur sei statisch und kontrollierbar“, sagt Ian Johnson, bis 2006 Vizechef der Weltbank, nun Generalsekretär des Club of Rome, der sich für einen nachhaltigeren Umgang mit dem Planeten einsetzt (s. Interview rechts). Und tatsächlich: Neben dem Chaos auf den Flughäfen und in den Lagerhallen hat die Wolke auch Gewinner hervorgebracht: jene, die auf Luftverkehr verzichten.

Krisengewinner. Da ist zunächst die Mietwagenbranche. Besonders clever in dieser einmaligen Situation reagiert hat Stefan Miklauz von Easymotion (früher: Laudamotion). Neben den bekannten Miet-Smarts bietet er ein Limousinen-Service mit 25 dunklen Luxusfahrzeugen samt uniformiertem Chauffeur. „Allein am Freitag hat sich der Umsatz auf gut 25.000 Euro verfünffacht“, berichtet Miklauz. Entschlossene und solvente Reisende ließen sich nach Brüssel, Paris und in andere Städte Europas chauffieren. Eine Brüsselfahrt kommt auf rund 3.500 Euro. Das große Geld witterten auch einige private Wiener Autofahrer, die sich ein Schild malten, um sich darauf für Fahrten durch ganz Europa anzupreisen.

Auch die Bahn profitiert von der Wolke. Gabriela Lutter, Vorstand der ÖBB-Personenverkehrs AG: „Wir hatten am ersten Wochenende 50.000 Fahrgäste mehr als sonst. Es wurden 54 zusätzliche Züge eingesetzt, 53 Personen saßen mehr als sonst an den Kassen und Hotlines.“ Schon fordert die Industriellenvereinigung den raschen Ausbau der Hochgeschwindigkeitsstrecken. Die oft für Verspätungen gescholtene Bahn konnte hier bei Kunden punkten. Die wenigsten äußerten Ärger – trotz voller Züge: „Ich habe seit Ewigkeiten wieder das Gefühl, wirklich zu reisen“, sagt ein Frankfurter Geschäftsmann in der Warteschlange am Westbahnhof. Er wirkt dabei fast glücklich.

Island, schick uns deine Asche! Am glücklichsten sind aber die, denen die Wolke schlicht Ruhe gebracht hat. „Island, schick uns deine Asche!“, war in einem Schrebergarten bei Schwechat am Dienstag auf einem Transparent zu lesen. „Es war das ruhigste Wochenende, das wir hier je verbracht haben“, erklärt Markus Reinalter den originellen Gartenschmuck. „Kein Kondensstreifen, kein Lärm – von uns aus könnte der Vulkan noch lange Asche spucken.“

Die vielen Tausend, die noch auf dem Heimweg sind oder auf Verwandte warten, werden diese Sicht kaum teilen. Einige vertreiben sich die Wartezeit mit Aschen-Philosophie. So der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho, dessen Frau seit fünf Tagen festhängt und die Zeit nützt, um tiefsinnige Vulkan-Botschaften im Internet zu verbreiten. „Rettet den Planeten? Haha! Der Planet denkt sich wohl gerade: Rettet euch selbst, mir geht es gut“, schreibt er. Und: „Der Vulkan denkt sich wohl: Die Menschen haben mit dem Feuer gespielt. Jetzt bekommen sie die Asche.“

Geht der Euro baden?

Rettung. Was die Politik jetzt tun kann, um ein zweites Griechenland zu verhindern: Sieben dringende Reformen. Von David Hell, Corinna Milborn, Hanna Simons. NEWS Nr. 18/10 vom 06.05.2010.

Die Rettung kommt in letzter Minute: Am 19. Mai muss Griechenland, das Euro-Land am Rande des Abgrunds, 8,5 Milliarden Euro an seine Gläubiger überweisen – sonst ist der Bankrott da. Nun ist das Hilfspaket geschnürt. 30 Milliarden Euro steuert der IWF bei, 80 Milliarden werden EU-Länder überweisen, 2,3 davon Österreich.

Doch die drohende Krise des Euro ist durch den Mega-Scheck nicht gebannt. Vier weitere Eurostaaten stehen an der Kippe – und mit ihnen die Banken der großen EU-Staaten (s. Grafik). Italien, Spanien, Portugal und Irland brauchen in den nächsten vier Jahren insgesamt mindestens 1.800 Milliarden Euro von den Finanzmärkten, um ihre Defizite zu finanzieren und fällige Schulden zu bedienen. Eine enorme Zahl, die nun jene auf den Plan ruft, die am Absturz verdienen wollen und ihn damit antreiben. Um ein zweites Griechenland zu verhindern, versucht die EU nun unter der Führung einer verärgerten Bundeskanzlerin Angela Merkel, ein Sicherheitsnetz gegen den Fall des Euro einzuziehen.

01 Spekulation: Eindämmen

Zuerst will die Politik mit Regulierung und einer – seit der Finanzkrise angekündigten – Europäischen Finanzmarkt-aufsicht jene Spekulationen einbremsen, die am Fall der Euroländer verdienen wollen und ihn damit beschleunigen. Um gegen Staatsanleihen zu wetten, werden „Credit Default Swaps“ (CDS; eine Art von Derivaten) gehandelt. Wer Stimmung gegen ein Land macht, kann damit am Absturz gut verdienen – wie eben in Griechenland erlebt. Finanzmogul George Soros fordert schlicht ein Verbot der CDS. „In den USA wird daran gearbeitet, den Handel mit Swaps transparenter zu gestalten“, sagt der Chefvolkswirt der Bank Austria, Stefan Bruckbauer. Damit wäre auch die EU am Zug.

Bei Währungen wird mit Leerverkäufen („short selling“) auf den Absturz spekuliert. Auch hier könnte man einen Handelsstopp ausrufen: In der Finanzkrise hat das schnell funktioniert – bis heute darf man nicht auf fallende Kurse von Banken setzen. Auf den abstürzenden Euro allerdings schon.

02 Ratings: EU-Agentur

Nach der Finanzkrise wurde sie groß versprochen: Eine europäische Ratingagentur sollte die Macht jener drei privaten Agenturen schwächen, die ein Monopol auf die Einschätzung der Bonität von Firmen und Staaten haben. Doch bisher ist nichts passiert. Senken also Standard & Poor’s, Moodys und Fitch ihren Daumen über einem Land, müssen große Banken und Fonds – die ihre Richtlinien nach den Ratings ausgerichtet haben – deren Anleihen verkaufen. So schlitterte Griechenland nun fast in die Zahlungsunfähigkeit. Jetzt sind Spanien und Portugal dran: Standard & Poor’s hat das Rating bereits herabgesetzt – das macht das Schulden-Machen teurer.

Eine europäische Ratingagentur könnte diesen Einfluss schwächen. Nun drängt vor allem Deutschland darauf, den Plan endlich umzusetzen. „Konkurrenz kann hier nur nutzen“, richtete Angela Merkel am vergangenen Dienstag nach Brüssel aus.

03 EZB: Geld für Staaten

Bei den Banken reagierte die Europäische Zentralbank sehr schnell: Gleich nach der Finanzkrise 2008 stellte sie kurzfristiges Geld zu Zinsen von null bis ein Prozent zur Verfügung – also praktisch gratis. Das Ziel: die Liquidität zu erhalten. Doch für Staaten werden solche Rettungsmaßnahmen nicht getroffen: Griechenland muss sich das Geld bei den Banken ausborgen – und das zu Zinsen von bis zu 15 Prozent.

Allein die zögerliche Hilfszahlung an Griechenland hat gezeigt, wie teuer jeder Tag werden kann (s. Grafik Staatsanleihen, S. 53). Hier bedarf es klarer Richtlinien für die Zukunft.

04 Schulden: Kontrollieren

Dass Griechenland am Rande des Bankrotts steht, erfuhren die anderen Euroländer – die jetzt zahlen müssen – Jahre zu spät: Zwar verpflichten sich alle Euroländer zu Budgetdisziplin. Doch erstens dürfen die Zahlen ganz offiziell geschönt werden: Schulden, die in privatisierte Unternehmen ausgelagert werden, zählen nicht. Und zweitens wird geschummelt: Ob die gemeldeten Zahlen stimmen, darf niemand überprüfen. Nun sollen die Regeln geändert werden. EU-Abgeordneter Othmar Karas: „Eurostat muss künftig jederzeit in den Mitgliedsstaaten die gemeldeten Daten überprüfen können.“

Während jede kleinste Vorschrift für Industriefilter oder Nahrungsmittelzusätze EU-weit gilt, bleiben den Staaten zwei Hebel für den internen Standortwettbewerb: Steuern und Sozialsystem. Nun, da Eurostaaten füreinander einspringen, scheint der Wettlauf nach unten bei den Steuern – und die großen Unterschiede etwa in den Pensionssystemen – besonders absurd: Denn offenbar kann sich ein Land, das keine Steuern eintreibt und damit Unternehmen und Vermögen aus anderen Ländern abwirbt, nun auf Kosten der Hochsteuerländer sanieren lassen. Das ärgert besonders Deutschland. „Wir müssen die Steuersysteme harmonisieren und die binnenmarktrelevanten Steuersätze koordinieren“, fordert Othmar Karas. „Die Griechen-Krise ist ein Anstoß dafür.“

05 Steuern: Harmonisieren

06 Wirtschaft: Ankurbeln

Gerade erst, nach der Finanzkrise, galt nur ein Credo bei der Rettung der Wirtschaft: Massen an Geld. 200 Milliarden pumpten die EU-Länder in ihre Konjunkturpakete. Wie das Geld genau verwendet wurde, hat niemand überprüft – die Masse zählte.

Nun soll das Gegenteil den Euro retten. Griechenland verpflichtet sich zu einem drakonisches Sparprogramm, den anderen taumelnden Euroländern blüht bereits Ähnliches. Und spätestens 2011 müssen all jene sparen, die jetzt zahlen – darunter Österreich. „Die Sparpakete könnten die wackelige EU-Konjunktur auf lange Zeit abwürgen“, warnt der deutsche EU-Abgeordnete Sven Giegold. „Die Währungsunion kann nur mit einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik funktionieren.“ Und die sollte nachhaltig sein – und nicht alle zwei Jahre die Richtung komplett ändern.

07 Gläubiger: Beteiligen

Der wichtigste Grund für die Rettung der Griechen ist nicht Mitleid mit den Hellenen: Es ist die Sorge um den Euro, aber vor allem um die eigenen Banken, die die EU-Länder zum Rettungspaket treibt. Jene Banken, die zuvor schon mit Steuergeld aus der Finanzkrise gerettet wurden und damals ihre Gelder in Staatsanleihen umgeschichtet haben, sollen nun also das Risiko nicht selbst tragen – sondern über den Griechen-Umweg erneut gerettet werden. Und zwar mit Staatsschulden: An den neu ausgegeben Anleihen verdienen wiederum die Banken. Angela Merkel reicht es nun: Sie fordert eine europaweite Bankenabgabe und eventuell eine Beteiligung der Gläubiger an der Rettung Griechenlands – etwa durch den Verzicht auf einen Teil der Zinsen. Langfristig aber muss die EU ein Insolvenzrecht für Staaten entwickeln: Denn anders als bei Unternehmen gibt es für Staatspleiten keine Regeln. Entwicklungsländer, die teils seit Jahrzehnten in der Schuldenfalle stecken, fordern solch ein Insolvenzrecht schon lange.

Doch nun trifft es die Euroländer. Und damit sind die Reformen, die seit Jahren angekündigt werden, vielleicht sehr schnell umsetzbar. Denn sonst geht der Euro baden.

Angst um Europa

Der EU-Kraftakt. Der Euro am Abgrund – wie wir ihn jetzt stützen & wem die Hilfsmilliarden nützen. Das EU-Ranking. Wer casht, wer crasht – die Union im Economy-Check: alle Daten, alle Fakten. Die EU-Kampfzone. Wo Europa brennt – so ticken Athens Anarchos: ihre Pläne, ihre Opfer, der Report. Der EU-rlaub. Rezession statt Retsina, Buchungsstopp für Griechenland: Lokalaugenschein auf Kreta. Von C. Milborn, T. Duffek, D. Hell, K. Kuch (Brüssel). NEWS Nr. 19/10 vom 12.05.2010.

Ich hoffe, dass alle die Dramatik der Situation begriffen haben.“ Finanzminister Josef Pröll (ÖVP) war Sonntag zu Mittag beim Flug zum EU-Finanzministergipfel in Brüssel besorgt: „Einigkeit“ war angesagt, denn der Euro stand an der Kippe. In solch explosiven Situationen seien selbst die kleinsten Signale wichtig: „Wenn diese Sitzung bis weit nach Mitternacht dauert, könnte das von den Märkten als schlechtes Signal gewertet werden.“

Erst 14 Stunden später, um 2.13 Uhr morgens, war es dann endlich so weit: Pröll konnte den mitgereisten Journalisten die Einigung der EU-Finanzminister verkünden. 750 Milliarden Euro schwer wird der Schutzschirm für den Euro. Trotz der enorm langen Sitzungsdauer stand damit fest: Der Euro ist – vorerst – gerettet. Spät, aber doch.

„Das war ein brutales Match mit den Deutschen.“ Zuvor wurde hinter verschlossenen Türen stundenlang gefeilscht. Wobei sich die Dramatik ständig weiter zuspitzte: Zuerst fiel Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble mit einem allergischen Schock aus und wurde ins Spital gebracht. Deutschlands Innenminister Thomas de Maizière wurde eilends eingeflogen.

Er hatte prompt einen harten Job zu übernehmen. Kleine Länder – allen voran Österreich – wollten verhindern, dass der Großteil der Finanzierung über Kredite läuft. Statt mit prompt schuldenwirksamen Krediten den Schutzschirm für den Euro zu basteln, beharrten sie auf Haftungsübernahmen, die budgetär nicht unmittelbar wirken.

Zudem: Die angeschlagenen Spanier und Portugiesen standen im Visier der Zahler. Beide wehrten sich vehement gegen die Forderung, sofort fixe Zahlen und Zeitpläne über zusätzliche, schnell umzusetzende Sparpläne in das Verhandlungspapier zu schreiben.

Erst kurz nach zwei Uhr war die Sitzung endlich vorbei. Am Ende stand ein Kompromiss: Spanien und Portugal müssen erst nächsten Montag, beim nächsten EU-Finanzministertreffen, konkrete Zahlen über zusätzliche Sparpläne abliefern. Und die „Kleinen“ bekommen ihre Forderung erfüllt: Statt mit Krediten wird der Schutzschirm auf Haftungszusagen aufgebaut. So fließt zunächst kein echtes Geld – erst, wenn ein Land tatsächlich in den Bankrott rutscht, muss gezahlt werden. Dennoch steigt die EU mit nie da gewesener Finanzkraft direkt zu den Spekulanten in den Ring und hält gegen jene, die auf den Bankrott setzen.

Freilich: Die technische Umsetzung dieses komplizierten Konstrukts (s. Grafik) ist bisher unbekannt.

Zerreißprobe für die EU. So ganz nebenbei hat die EU in dieser langen Nacht der Euro-Rettung einige ihrer Grundsätze über Bord geworfen. Die Folge: Der harte Euro ist Geschichte, die Europäische Zentralbank kauft erstmals in großem Stil die Staatsanleihen gebeutelter Euro-Länder auf. Vor allem die Deutschen warnen vor Inflation. „Diese Gefahr sehe ich nicht. Die Amerikaner und die Briten lassen ihre Notenbanken schon lange zugunsten ihrer Wirtschaft eingreifen“, beschwichtigt Ex-Finanzminister Ferdinand Lacina.

Alleingänge einzelner Staaten – ob reich oder arm – wird es in Zukunft auch nicht mehr geben: Von nun an sind alle für alle verantwortlich.

Das stellt die EU nun vor eine Herausforderung: Entweder sie entwickelt eine gemeinsame Wirtschaftspolitik – oder sie steht jedes Mal, wenn der neue Rettungsschirm verwendet wird, vor einer Zerreißprobe, bei der die Bürger der reichen Länder den Austritt fordern und jene der Armen gegen die Sparpakete protestieren.

„Diese Krise ist für die EU existenziell“, sagt Ex-Vizekanzler Erhard Busek. „Es ist unmöglich, dass Entscheidungswege so lange dauern wie in den vergangenen Wochen. Wir brauchen jetzt eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik. Im Moment driftet die EU leider eher auseinander – und das kostet uns zig Milliarden.“

Für das Verhalten der österreichischen Regierung findet Busek harte Worte: „Die EU-Skepsis ist unberechtigt, doch die Politik vermittelt diese Botschaft nicht. Das ist fahrlässig und sogar kriminell.“

Die Krise ist nicht überstanden. Doch bevor die EU-Staaten nun Wirtschafts- und Finanzkompetenzen nach Brüssel übergeben, muss die Euro-Krise überwunden werden: Denn das 750-Milliarden-Paket hat zwar die Finanzmärkte beruhigt – doch es hat dem Euro nur eine Atempause verschafft. Die Wirtschaftsmedien, wichtige Gradmesser für Anlegerverhalten, reagierten auf das Paket verhalten.

„Die EU hat sich nur ein bisschen Zeit gekauft, um die Unordnung in der Euro-Zone zu sortieren“, sagt Wolfgang Münchau, Autor und ehemaliger Chefredakteur der „Financial Times Deutschland“. „Der echte Test kommt erst.“

Denn nach den üppigen Bankenrettungspaketen 2008, einer Konjunkturspritze von 200 Milliarden Euro 2009 und einer scharfen Rezession steht den Staatshaushalten das Wasser bis zum Hals. Das Rettungspaket kann die Spekulation gegen die Euro-Staaten eindämmen. Doch die grundlegenden Probleme bleiben: Nach wie vor stehen mindestens fünf Euro-Staaten an der Kippe zur Zahlungsunfähigkeit. Ein Finanzcheck mit den wichtigsten Daten gibt Aufschluss darüber, wer in Europa casht und wer crasht (s. Tabelle rechts). Die EU-Sorgenkinder sind weiterhin Griechenland sowie Portugal, Italien und Irland – und allen voran Spanien.

Das Land ist nach dem Zusammenbruch einer gigantischen Immobilienblase in die Rezession gerutscht – und auch wenn die Staatsfinanzen dank der Überschüsse in den Boomjahren nicht so schlecht aussehen: Der private Sektor und die Haushalte sind extrem überschuldet, die Kredite mit Häusern besichert, deren Wert ständig fällt. Spanien hat nun etwas Zeit gewonnen – doch gerettet ist es nicht.

„Es wird den EU-Ländern trotz des Euro-Rettungspakets nichts anderes übrig bleiben, als zusätzlich Geld über die spanische Notenbank laufen zu lassen oder direkt Papiere von spanischen Unternehmen zu kaufen“, sagt Ex-Finanzminister Ferdinand Lacina. „Spanien ist ein großes Land, in dem Deutschland und Frankreich stark investiert haben. Wenn die Banken insolvent werden, löst das einen Schneeballeffekt wie bei der Lehman-Pleite aus.“

Spanien an der Kippe. Ein zweites Griechenland sei zwar nicht zu befürchten, meint Margit Schratzenstaller, Wifo-Expertin für Konjunkturdaten: „Griechenland ist ein Sonderfall.“ Dennoch – Spanien stand im Vorjahr weit schlechter da als Griechenland. „Ob die Illiquidität über die Iberer hereinbricht, hängt letztlich vom Vertrauen und der Laune der Investoren, Banken und Spekulanten ab. Alle EU-Länder müssen sich jetzt glaubwürdig um fiskalische Disziplin bemühen.“

Spanien und Portugal, die wohl als Erste den neuen EU-Rettungsschirm in Anspruch nehmen werden, müssen damit sofort starten: Schon für nächsten Montag erwarten die EU-Finanzminister ein hartes Sparpaket. Die anderen Staaten Europas werden folgen. In Österreich schlagen nun selbst führende ÖVP-Politiker vor, alle Tabus für Steuern zu brechen (s. Interview mit Außenminister Spindelegger S. 28). Nachdem es im Vorjahr hieß, nur Massen an Geld könnten die Wirtschaft retten, wird nun das Gegenteil gefordert.

„Das ist eine wahre Kneippkur, der die Staaten hier unterworfen werden. Es ist nur zu hoffen, dass man dem Patienten genug Luft zum Atmen lässt“, sagt Lacina. Denn hinter jedem Sparpaket lauert eine Wirtschaftsflaute: Die Wirtschaft Europas hat sich von der Krise noch nicht erholt und hing am Tropf der öffentlichen Ausgaben.

Steigende Arbeitslosigkeit. Besonders gefährlich: die steigende Arbeitslosigkeit. Denn sie bedeutet, dass die wichtigste Steuerquelle austrocknet – und sie führt zu sozialer Unruhe, besonders, wenn die Jungen betroffen sind. In der EU beträgt die Jugendarbeitslosigkeit schon jetzt 20 Prozent, im Krisenland Spanien 42, in Frankreich 24 Prozent. Griechenland ist nicht das einzige Land, in dem sich der Frust der Jugend auf der Straße entlädt (s. oben).

EU-SP-Mandatar Jörg Leichtfried hat deshalb eine Initiative gestartet, die Arbeitslosigkeit in die Euro-Kriterien einzubeziehen: „Wenn eine gewisse Grenze überschritten wird, muss es Sanktionen geben.“ Bundeskanzler Werner Faymann kann diesem Ansatz viel abgewinnen. „Die Rettungsaktionen sind alle notwendig“, bestätigt der Kanzler. „Die Bevölkerung fragt sich nun aber zu Recht, ob sie auch vor Sozialabbau gerettet wird. Arbeiter, Pensionisten, die Mittelschicht haben Europa nämlich nicht in diese Situation gebracht, das waren jene, die immer mehr hochspekulative Geschäfte getätigt haben.“

Im Einklang mit seinen sozialdemokratischen Kollegen setzt Faymann – der sich in den Tagen der Euro-Rettung auffällig bedeckt hielt – nun auf Regulierungen für den Finanzmarkt: Spekulation auf fallende Kurse soll verboten werden, die Finanztransaktionssteuer und eine europäische Rating-Agentur eingeführt werden. Aber auch Konservative wie Angela Merkel und Nicolas Sarkozy unterstützen diesen Kurs.

Fragt sich nur, warum die EU bei so viel Einigkeit nicht einfach die Spekulation auf Staatsbankrotte verboten hat, anstatt ein 750-Milliarden-Euro-Paket in die Schlacht gegen die großen Finanzakteure zu werfen: Während der Finanzkrise war das Spekulieren auf fallende Kurse von Banken binnen Tagen verboten. Für Lacina ist die Antwort einfach: „Die Finanz-Lobbys sind zu stark.“ Tatsächlich haben die großen Banken seit der Finanzkrise so viel verdient wie kaum je zuvor – und das vor allem mit jenen Staatsanleihen, vor deren Absturz sie nun durch das Euro-Rettungspaket bewahrt werden.

Doch solange die Pläne zur Finanzmarktregulierung nicht umgesetzt sind, ist die Befriedung der Finanzmärkte eine Überlebensfrage für die EU – und für ihre Bürger. Wie sehr, zeigte die knappe Rettung des Euro am Wochenende. Ein hoher Mitarbeiter des Finanzministeriums, der den Rettungspoker in Brüssel mitmachte, drückte das so aus: „Hätten wir nicht vor der Öffnung der Börsen Hunderte Milliarden ins Spiel gebracht, würde am Freitag kein Geld mehr aus dem Bankomaten kommen.“

,Ich werde täglich vorverurteilt‘

Interview. Karl-Heinz Grasser über seine politische und wirtschaftliche Karriere, die Krise Europas und seine Antworten auf die aktuellen Vorwürfe von Buwog bis Hypo. NEWS Nr. 20/10 vom 20.05.2010.

News: Herr Grasser, wie ist das Leben nach der Politik?

Karl-Heinz Grasser: Eigentlich sehr gut. Ich arbeite nach wie vor sehr viel, aber weniger als in der Politik – für ein gutes Familienleben unerlässlich.

NEWS: Man hat den Eindruck, als wären Sie in der freien Wirtschaft nicht richtig angekommen. Hätten Sie sich bei Ihren Projekten einen anderen Verlauf gewünscht?

Grasser: Ich bin nie zufrieden, das ist eine Grundeigenschaft von mir. Aber ich habe in diesem kurzen Zeitraum sehr viel gelernt – etwa bei Meinl Power: 600 Millionen Euro Kapital, zehn Projekte in sieben Ländern, eine feindliche Übernahme. Das erlebt man normalerweise eher in zehn Jahren.

NEWS: Rückblick auf die Politik: Ihr politischer Werdegang scheint von Vaterfiguren geprägt – Haider, Schüssel. Haben Sie es mit Vätern?

Grasser: Ich liebe meinen Vater! Schüssel und Haider zähle ich zu den drei größten politischen Talenten der Nachkriegszeit – neben Kreisky. Mit Haider war die Beziehung sicher die emotionalste – er hat mich in die Politik geholt, mir sehr große Chancen gegeben. Als ich irgendwann einmal gesagt habe: „Auch Haider macht Fehler“, hat es eine wahre Strafexpedition gegeben, woraufhin ich zurückgetreten bin. Wir hatten einige Auseinandersetzungen, aber ich habe ihn sehr geschätzt und finde es völlig pietätlos, wie er heute noch immer von einigen verfolgt wird. Ob Jörg Haider oder Helmut Zilk – beide haben sich um unser Land außerordentlich verdient gemacht. Lasst sie doch in Frieden ruhen!

NEWS: Haben Sie in der Politik erreicht, was Sie wollten?

Grasser: Absolut. Ich glaube, unser Produkt – die Regierungen Schüssel I und II – war sehr gut für Österreich. Natürlich kann man mehr erreichen, aber in der Standortpolitik und bei den Staatsfinanzen sowie einer Reihe sozialpolitischer Reformen waren wir sehr erfolgreich.

NEWS: Man wirft Ihnen allerdings vor, durch die Auslagerung von Schulden etwa auf ÖBB und Asfinag höhere Schulden als zuvor produziert zu haben.

Grasser: Das kostet mich maximal ein Lächeln. Wir waren erfolgreicher als alle anderen. Wir haben nach mehr als 30 Jahren wieder ein Nulldefizit geschafft. Uns ist es gelungen, die Schulden abzusenken und die Steuern deutlich zu reduzieren. Am Ende unserer Regierungszeit gab es Rekordbeschäftigung. In unserer Zeit gab es Headlines wie „Deutschland beneidet Österreich“. Heute überholt uns Deutschland in der Standortqualität.

NEWS: Ist das Kritik an Josef Pröll?

Grasser: Nein. Ich schätze sowohl den Bundes- als auch den Vizekanzler. Ich bin kein Freund der großen Koalition – aber eine ideale Konstellation gibt es in Österreich derzeit nicht.

NEWS: Die Gruppenbesteuerung, eines Ihrer Lieblingsprojekte, steht nun in der Diskussion. Stört Sie das?

Grasser: Mehr noch: Es ärgert mich massiv, wenn die Standortqualität Österreichs verloren geht, indem man über Reichensteuern, Bankensteuern, Aufhebung der Gruppenbesteuerung nachdenkt. Den Arbeitnehmern nützt, was dem Standort und der Wettbewerbfähigkeit nützt. Wir haben diese Politik für alle gemacht, nicht für eine bestimmte Gruppe. Was es jetzt braucht, sind niedrigere Steuern und Wachstumspolitik! Das reduziert die Arbeitslosigkeit.

NEWS: Aber was nützt einem Kleinunternehmer die Gruppenbesteuerung?

Grasser: Dass man internationale Unternehmen nach Österreich bekommt, die mit vielen kleinen und mittleren Betrieben zusammenarbeiten, die wiederum Arbeitsplätze schaffen. Wir sind ein kleines Land und müssen eine wettbewerbsfähige, offene Volkswirtschaft sein. Geld ist ein scheues Reh. Es geht dorthin, wo es für den Eigentümer den größten Nutzen bringt. Daher braucht man attraktive Steuerpolitik, gute Lebensqualität, Sicherheit – also alles, was eine hohe Standortqualität ausmacht. Österreichs Ziel muss es sein, besser als der europäische Durchschnitt zu sein.

NEWS: Stichwort Steueroasen schließen, Transaktionssteuer einführen. Wie stehen Sie dazu?

Grasser: Das entscheidende Kriterium ist das Wachstum. Menschen sind arbeitslos, weil es nicht genügend Wachstum gibt. Es gibt einen Wettbewerb zwischen Amerika, Asien und Europa. Die Asiaten sind extrem wettbewerbsfähig, auch die Amerikaner werden schneller aus der Krise kommen, als viele glauben. Ich befürchte, dass Europa hier am schwächsten ist, und es besteht die Gefahr, dass Europa – so schlecht wie es aufgestellt ist – im Vergleich verlieren könnte. Ich hoffe, dass wir im Vergleich zu den Asiaten und Amerikanern nur relativ verlieren. Ich schließe aber nicht aus, dass Europa in Sachen Lebensqualität und Wohlstandsentwicklung auch in absoluten Zahlen verlieren wird.

NEWS: Also liegt die Lösung Ihrer Meinung nach im Wettbewerb. Auch durch Steuerdumping?

Grasser: Vorweg: Zuerst muss sich Europa entscheiden, ob es eine starke europäische Politik will oder nicht. Entweder es gibt ein starkes Europa, oder es gibt einen Verbund von Staaten, die miteinander im Wettbewerb stehen. Ich persönlich glaube ja, dass ein starkes Europa bisher nicht gewollt war. Und zur Schuldenkrise: Hier geht es um Machtpolitik. Die Amerikaner attackieren die Europäer und haben doch selbst ihre eigenen Steueroasen. Die Briten lästern über Europa und haben selbst ihre eigenen Steueroasen. Jeder versucht dem anderen etwas wegzunehmen, damit es ihm selbst bessergeht. Natürlich bin ich für das Schließen dieser Schlupflöcher – jeder soll seine Steuern zahlen. Aber die Frage muss doch lauten: Wie schaffe ich wieder Vertrauen in die europäische Wirtschaftspolitik? Wie kom-me ich zu Wachstum? Neue Steuern sind nicht der entscheidende Punkt. Es geht darum, dass die Konsumenten wieder Geld ausgeben. Ohne Wachstum kann man jede neue Steuer erfinden – mit dem Ergebnis, dass sie kontraproduktiv sein wird. Entscheidend sind Staatsfinanzen und Wettbewerbsfähigkeit.

NEWS: Sie könnten heute Kanzler oder Vizekanzler sein – Andreas Khol hat Sie damals als Spitzenkandidat verhindert. Sind Sie ihm deshalb böse?

Grasser: Nein. Ich hätte mir zwar gewünscht, dass er mir das ins Gesicht sagt, aber er hat das richtig gesehen. Es wäre falsch gewesen, die Spitzenposition in der Regierung und demnach das Amt des Kanzlers oder Vizekanzlers vom Parteivorsitz zu trennen.

NEWS: Trauen Sie H.-C. Strache zu, das Erbe Jörg Haiders anzutreten?

Grasser: Nein. Aber ich bin erstaunt, wie viel Erfolg er hat.

NEWS: Ein anderer Politiker des zersplitterten rechten Lagers hat Sie in der wirtschaftsliberalen Ausrichtung offenbar zum Vorbild genommen: Was halten Sie von Josef Bucher?

Grasser: Ich hoffte, Sie würden Karl-Theodor zu Guttenberg sagen. Zu Bucher: Man muss sehen, ob es gelingt, eine fünfte politische Kraft in Österreich zu etablieren. Ich wäre im Sinne der Demokratie dafür. Aber ich hätte mich auch gefreut, wenn es das LiF geschafft hätte.

NEWS: Rechtsliberale Wirtschaftspolitik steht mit der Krise – und nun der Eurokrise – allerdings mehr denn je in der Kritik.

Grasser: Jetzt heißt es, die liberale Marktwirtschaft sei gescheitert. Völliger Blödsinn. Es ist klar, dass nur Marktwirtschaft funktioniert – wenn auch nicht unbedingt in der jetzigen Form. Wenn es dem Esel zu gut geht, geht er aufs Eis und stürzt. Das ist hier passiert: Wenn man dauerhaft über seine Verhältnisse lebt, geht es irgendwann nicht mehr. Umso wichtiger war unser Erfolg mit dem Nulldefizit und das Bewusstsein zu fördern, wie wichtig solide Staatsfinanzen sind.

NEWS: Ist die Griechenland-Krise Ihrer Meinung nach bewältigbar?

Grasser: Griechenland ist Teil des Euro, obwohl es nie die Voraussetzungen erfüllt hat – das ist nicht zu ändern. Glaubt wirklich wer, dass Griechenland sanierbar ist? Verabschiedet euch von dieser Illusion. Griechenland ist pleite, und die Schuldner werden einen Teil ihres Geldes nicht mehr sehen. Das ist die Wahrheit. Die Frage für Europa ist: Lernen wir jetzt daraus oder nicht? Kurzfristig ist alles dafür zu tun, dass die Griechenlandkrise nicht auf andere Länder der Eurozone übergreift. Im nächsten Schritt muss sich Europa bessere Spielregeln geben und das Vertrauen in den Euro wiederherstellen. Die Rechnung dürfen nicht immer die Steuerzahler alleine zahlen.

News: Auch Kärnten ist fast pleite – aufgrund einer Bank. Die Haftungen, die das Land für die Bank übernommen hat, kann niemand zahlen. Sie waren einst Kärntner Landeshauptmann-Stellvertreter und Wirtschaftslandesrat. Tut Ihnen das nicht weh?

Grasser: Die Situation der Kärntner Landesfinanzen ist sicher schwierig. Leider ist Kärnten dabei aber nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel, wenn Sie sich die Lage der Staatsfinanzen in ganz Europa vor Augen führen. Mit Griechenland ist das alles aber Gott sei Dank nicht vergleichbar.

NEWS: Sie sind auch mit aktuelleren Vorwürfen konfrontiert: Peter Pilz hat eine Anzeige gegen Sie eingebracht, es geht um den Glücksspielkonzern Novomatic.

Grasser: Das ist mir völlig egal. Jeder Satz, den ich dazu verliere, wäre Zeitverschwendung. Mein Anwalt wird der Staatsanwaltschaft eine Sachverhaltsdarstellung wegen Verdachts auf Verleumdung übergeben. Für mich ist das Teil der politischen Verfolgung und Hetzjagd durch einige Abgeordnete. Teilweise schmunzle ich allerdings darüber, weil das für mich indirekt eine Bestätigung meiner erfolgreichen Politik ist.

NEWS: Rückblick: Wie beurteilen Sie aus heutiger Sicht die sogenannte „Homepage-Affäre“?

Grasser: Das beste Beispiel für einen parteipolitisch motivierten Skandalisierungsversuch. Herausgekommen ist genau gar nichts, so wird es auch bei allen anderen Angriffen sein.

NEWS: Und nun zu einem aktuellen Vorwurf, wonach Ihnen der Lobbyist Walter Meischberger einen Urlaub bezahlt hätte …

Grasser: Selbstverständlich habe ich mir meinen Urlaub selbst bezahlt. Das ist einmal mehr ein wirklich lächerlicher Versuch einer parteipolitischen Verfolgung. Schön, wenn Österreich keine anderen Probleme hat, als über einen Urlaub des Herrn Grasser aus dem Jahr 2004 zu diskutieren.

News: Walter Meischberger, auch Ihr Trauzeuge, steht vor allem auch im Mittelpunkt des Buwog-Skandals. Haben Sie ihn auf diese Geschichte angesprochen?

Grasser: Ja, natürlich! Ich war ja mehr als überrascht, als ich von diesem Auftrag der Immofinanz erfahren habe. Meischberger hat betont, dass es ihm sehr leid tut, dass er die Steuern nicht bezahlt hat. Das wird er jetzt nachholen müssen. Ansonsten sieht er dieses Geschäft als normale Lobbyingarbeit.

NEWS: Vielleicht haben Sie sich aber nicht immer die richtigen Freunde ausgesucht?

Grasser: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht immer dasselbe! Wäre ich ein Minister der ÖVP oder SPÖ gewesen, wäre das alles überhaupt kein Thema. Ich war kein politischer Zögling, kam nicht aus dem Parteiapparat, sondern war ein Quereinsteiger. Der Vorteil war, man kann freier agieren und ohne parteipolitische Zwänge einen Beitrag zur positiven Veränderung unseres Landes leisten; der Nachteil ist, dass man keine Hausmacht hat und viel leichter angreifbar ist.

NEWS: Noch einmal: Meischberger steht im Mittelpunkt des Buwog-Skandals. Sie waren damals immerhin Finanzminister – sehen Sie keine persönliche Verantwortung?

Grasser: Ich bin nicht dafür verantwortlich, dass ein Konsortium zwei privaten Unternehmern, Peter Hochegger und Walter Meischberger, einen Lobbying-Auftrag erteilt und dafür neun oder zehn Millionen Euro zahlt. Hätte ich das gewusst, hätte ich es nicht toleriert. Ich wusste es aber nicht.

NEWS: In dieser Causa Buwog werden auch Sie als Beschuldigter geführt.

Grasser: Weil ich von einer Abgeordneten der Grünen angezeigt worden bin. Was glauben Sie, wie oft ich schon als Beschuldigter geführt wurde? Die Aufarbeitung von Anzeigen gegen mich dauert leider manchmal lange. Die Justiz soll das in aller Gründlichkeit und Unabhängigkeit untersuchen. In der Causa Meinl gab es eine anonyme Anzeige, wegen der ich meinen Anwalt in zweieinhalb Jahren mehrfach zum Staatsanwalt geschickt habe mit der Bitte, einvernommen zu werden. Erst nach einem Beschwerdebrief an die Justizministerin und einem gerichtlichen Einstellungsantrag durfte ich im Jänner 2010 endlich aussagen. Davor waren aber schon alle geheimen Ermittlungsakten in der Zeitung zu lesen, und ich bin vielfach medial vorverurteilt worden.

NEWS: Dem Abgeordneten Kräuter von der SPÖ geht das auch zu langsam. Er wirft der Justiz vor, Sie zu schonen.

Grasser: Kräuter steht mit seinen Forderungen – nach U-Haft für mich, Hausdurchsuchungen, Kontenöffnungen – unter Verdacht zur Anstiftung zum Amtsmissbrauch. Das ist Beeinflussung der Justiz und Verletzung der Gewaltentrennung in der Demokratie. Hier hätte ich einen Aufschrei erwartet. Derartigen politischen Druck auf die unabhängige Justiz gibt es in keiner funktionierenden Demokratie.

NEWS: Aber auch Ihr ehemaliger enger Mitarbeiter Ramprecht beschuldigt Sie.

Grasser: Davon bin ich persönlich enttäuscht – Ramprecht hat vor Jahren seinen Job in der Bundesbeschaffungsgesellschaft verloren. Er hat damals eine Mail geschrieben, dass er sich fühlt wie ein angeschossenes Raubtier, dass er nichts zu verlieren hat, vor niemandem Angst hat und sehr unangenehm werden kann. Seine falschen Aussagen jetzt sind offensichtlich späte Rache. Ich habe ihn wegen übler Nachrede geklagt und dem Gericht sehr umfassende Beweismittel vorgelegt, die belegen, dass Ramprecht offensichtlich mehrfach gelogen hat. Aber solange es gegen den Grasser geht, scheint das bei manchen Medien nicht zu zählen.

NEWS: Hier haben Sie eine E-Mail, dass der Banker Tilo Berlin an Ihren Trauzeugen Walter Meischberger geschrieben hat. Sie beginnt mit den Worten „Sehr geehrter Herr Minister Grasser“ und stammt aus einer Zeit, wo Sie noch Finanzminister waren. Es ging offenbar darum, dass Sie sich als Investor an der Kärntner Hypo beteiligen sollten. Erklären Sie uns das?

Grasser: Ich weiß nicht, warum der Herr Berlin dem Herrn Meischberger diese E-Mail geschrieben hat. Was ich Ihnen sagen kann ist, dass ich mein Geld nicht in Hypo-Genussscheine investiert habe. Tilo Berlin hat mich damals, ich glaube im Dezember 2006, angerufen, mir von seinem Projekt erzählt und mir angeboten, dort zu investieren. Ich kenne Herrn Berlin, habe ihn einige Male gesehen. Jedenfalls kann ich nicht ausschließen, dass ich ihm damals gesagt habe, dass er sich in Sachen Investoren an Walter Meischberger wenden solle, der vielleicht Interesse haben könnte.

NEWS: Durch Meischberger kommen Sie aber oft in die Schlagzeilen.

Grasser: Ich weiß, dass in der Buwog-Geschichte die Optik katastrophal ist. Ich weiß aber auch, dass ich da jeden Tag vorverurteilt werde, obwohl ich mir nichts habe zuschulden kommen lassen. Ich weiß, dass die Privatisierung der Buwog ein voller Erfolg für den Steuerzahler war, und bin stolz darauf. Daher bin ich auch für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Er würde beweisen, dass wir diesen Verkauf transparent, professionell und absolut sauber abgewickelt haben. Ich kämpfe für meinen guten Ruf und werde alles tun, damit er wieder voll und ganz hergestellt wird.

NEWS: Befriedigend haben Sie die Berlin-E-Mail jetzt aber nicht erklärt.

Grasser: Wenn ich investiert hätte, dann hätte ich es dem Parlament gemeldet und das transparent gemacht. Ich hätte damals genau gar nichts dabei gesehen, dort zu investieren. Ich wusste, dass ich wenig später aus der Regierung ausscheide. Wenn man in einigen Jahren zurückblickt, wird man wissen, dass der Karl-Heinz Grasser oft angegriffen wurde, aber keiner dieser Vorwürfe gestimmt hat. Hoffentlich werden dann die guten Leistungen unserer Regierungszeit im Vordergrund der Betrachtung stehen.

NEWS: Sie sagen, Sie haben nicht bei Tilo Berlin investiert. Gilt das auch für Personen aus Ihrem unmittelbaren Umfeld?

Grasser: Ich kann nicht für mein Umfeld sprechen. Ich verstehe aber die ganze Diskussion nicht wirklich, denn jeder hätte – wie bei vielen anderen Geschäften auch – investieren können. Auf der Investorenliste des Herrn Berlin stehen ja viele Namen sehr bekannter und erfolgreicher österreichischer Familien, die man jetzt bitte nicht skandalisieren sollte.

NEWS: Haben Sie derzeit Kontakt zu Herrn Meischberger?

Grasser: Nein!

NEWS: Wie stehen Sie zu Herrn Plech, der in der Buwog-Causa ebenfalls Beschuldigter ist?

Grasser: Herr Plech ist seit vielen Jahren sehr erfolgreich in der Immobilienbranche tätig. Wir haben mit einem weiteren Partner auch ein Unternehmen gegründet, das Immobilienentwicklungen umsetzt. Natürlich habe ich Ernst Plech auf die Buwog angesprochen. Er hat mir gesagt, dass er mit keinem Euro profitiert hat und mit dem Geschäft nichts zu tun hat.

NEWS: Danke für das Gespräch.