Öl-Tschernobyl im Golf von Mexiko: Raus aus der braunen Brühe

Corinna Milborn über die Chancen in der Katastrophe: Das Desaster Deepwater Horizon zeigt, dass das Ölzeitalter am Ende ist. Es kann ein Katalysator für eine Energiewende werden. NEWS Nr. 23/10 vom 10.06.2010. Ressort: Meinung

Wir sind der größte Erzeuger, der führende Besitzer von Reserven und verfügen über die größte Explorationsfläche“, steht im aktuellen Jahresbericht von BP über die Tiefwasserbohrungen im Golf von Mexiko. Der Konzern war stolz auf sein Know-how, Öl aus unmöglichen Tiefen zu pumpen. Das war vor dem 20. April. Dann explodierte die Deepwater Horizon.

Jetzt sieht die Welt einem Konzern, der sich als Musterbeispiel der Hochtechnologie präsentierte, fassungslos bei seinen hilflosen Versuchen zu, den Ölaustritt zu stoppen: Erst scheiterten Tauchroboter. Dann wechselte man erfolglos auf eine Art Spülmittel (praktischerweise für BP ist der Produzent eine Tochterfirma). Als Nächstes schüttete BP Gummiteile und Schlamm in das Loch. Man war an ein Kindergartenkind in der Sandkiste erinnert. Warum die Methode nichts gebracht hat, konnte uns der Konzern nicht erklären. Jetzt fängt eine antik anmutende Saugglocke einen Teil des Öls ab – erwischt dabei aber nur die Hälfte. Während 20.000 Helfer Vögel putzen und die Küste reinigen, fließen weiter täglich bis zu 1,5 Millionen Liter Öl in den Golf von Mexiko.

BP setzt währenddessen alles daran, sich an die Spitze der meistgehassten Konzerne der Welt vorzukämpfen. Während für Rettungsmaßnahmen bisher 1,25 Milliarden Dollar ausgegeben wurden, beschloss der Konzern am Wochenende, fast das Zehnfache an Dividende an seine Aktionäre auszuzahlen. Den Vogel schoss eine multimediale Imagekampagne ab, in der sich der BP-Chef nach sechs Wochen des völligen Versagens für die Katastrophe „entschuldigt“. Das Geld, meinte sogar US-Präsident Barack Obama, wäre wohl besser in die Reinigung der Küsten investiert worden. Doch auch der US-Regierung selbst fiel in den sieben Wochen seit der Explosion nicht viel mehr ein, als 1.900 Schiffe loszuschicken, die den Ölteppich aufhalten sollten. Es gelang nicht. Bis zur Entlastungsbohrung im August wird weiter Öl in den Golf von Mexiko fließen.

Die Hilflosigkeit des Konzerns und der Politik angesichts eines simplen Lecks wirft ein grelles Schlaglicht auf ein unterschätztes Hochrisikogebiet der modernen Gesellschaft: Die Katastrophe im Golf von Mexiko ist nicht einfach ein Tankerunfall oder eine Kriegsfolge, und deshalb ist sie auch so schwer in den Griff zu bekommen. Ölförderung heißt im 21. Jahrhundert nicht mehr, ein Loch in die Erde zu bohren. Wer heute noch Öl und Gas in großen Mengen fördern will, muss in die Tiefsee, in Ölsande oder in die Arktis. Weder Sicherheitsmaßnahmen noch Regulierung konnten mit den neuen Fördertechnologien mithalten. Die Wut darüber steigt mit jedem Tag, an dem das Öl die Küsten verklebt.

Die Deepwater Horizon könnte damit zu einem Katalysator einer Energiewende werden: Das Ölzeitalter, das zeigt der Unfall deutlich, neigt sich dem Ende zu. Alternativen sind da: Windkraft, vernetzte Energie produzierende Wohnhäuser, Erdwärme und Solaranlagen warten nur darauf, dass sich Öl nicht mehr rentiert. Die Energiewende wäre nicht nur für die Umwelt eine Chance. Wenn etwas der dümpelnden Wirtschaft der Industrieländer einen Schub verpassen kann, dann das: die Abkehr vom Öl.

Die Deepwater Horizon könnte zu dem werden, was Tschernobyl für die Atomindustrie war: zwar nicht das Ende – aber der Beginn einer Umkehr. Nebenbei könnte sich BP, anstatt den Kopf in den Ölsand zu stecken, daran erinnern, was der Name des Konzerns bedeutet: 1999 benannte sich der Konzern von „British Petrol“ in „Beyond Petroleum“ um – jenseits des Erdöls. Mit einer 200 Millionen Dollar schweren Kampagne erklärte uns BP damals die bevorstehende Abkehr vom Öl. Was BP allerdings an erneuerbarer Energie seither pro Tag erzeugt, macht nicht einmal ein Tausendstel der Öl- und Gasproduktion aus. Die Deepwater Horizon wäre nun, elf Jahre später, ein Anlass, den Slogan auch umzusetzen. Nicht nur für BP.

Arigona: Erstmals spricht ihr Freund

Abschiebung. Arigona Zogaj müsste ‚sofort ausreisen‘. Doch nun meldet sich ihr Freund zu Wort: ‚Bitte lasst sie bleiben. Ich habe Angst, dass sie sich etwas antut.‘ NEWS Nr. 23/10 vom 10.06.2010

Sehr geehrte Frau Innenministerin Fekter! Ich, Philipp B., möchte Sie bitten, Arigona Zogaj in Österreich zu lassen. Wir sind seit einiger Zeit zusammen, und sie ist für mich unendlich wichtig. Ich will sie auf keinen Fall verlieren.“

Philipp B. ist 17 Jahre alt. Seine Haare sind mit Gel gestylt, am Wochenende spielte er in der Jugendmannschaft Leonding Fußball und ging mit seiner Freundin aus. Nun muss er oft mitten im Spiel vom Platz, weil er sich nicht mehr konzentrieren kann, und an Ausgehen ist nicht mehr zu denken: Denn seine Freundin ist Arigona Zogaj. Es war eine normale Teenagerliebe: Seit zwei Jahren gehen Arigona und er in dieselbe Klasse der HBLA in Linz. Die beiden lernten zusammen Englisch, gingen in einer großen Freundesgruppe aus. In den Weihnachtsferien kamen sie sich näher, seit Anfang Jänner sind sie ein Paar. „Sie ist eine starke, fröhliche Frau, mit der man unglaublich viel Spaß haben kann“, sagt Philipp. Fremdenrecht, Asylverfahren? Das blendeten sie aus. „Wir hofften, es würde alles gut gehen.“ Doch Arigona ist nicht irgendeine Schülerin – sie ist ein Symbol für den Kampf um Zuwanderung und das Asylrecht in Österreich. Anhand dieses Mädchens wird Politik gemacht. Nun muss es gehen.

Ende der Hoffnung. Philipp sitzt in Traun am Esstisch zwischen seinen Eltern und kann es noch nicht glauben. Das Wohnzimmer ist orange gestrichen, auf dem Tisch steht ein Guglhupf. Es ist eine typische österreichische Familie – doch das Fremdenrecht hat einen tiefen Riss in die Idylle geschlagen. Soeben ist der Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck zugestellt worden: „Unverzügliche Ausreise“ steht darin. Es ist der Schlusspunkt einer Reihe von Enttäuschungen.

Im März kam der negative Bescheid im Asylverfahren. Die junge Frau brach zusammen, Philipp besuchte sie im Krankenhaus. Sie muss Antidepressiva nehmen, um überhaupt noch schlafen zu können und den Schulalltag zu bewältigen. Arigona Zogaj rief den Verfassungsgerichtshof an, Philipp wandte sich an die Innenministerin: „Die große Sorge ist meinerseits, dass sie sich etwas antut und mit dem Leben nicht mehr klarkommt. Als Arigona am 16. März den negativen Bescheid erfuhr, sah ich das erste Mal Verzweiflung und Ratlosigkeit in ihren Augen. Kann das wirklich sein? Wir wollen es einfach nicht wahrhaben! Arigona zerbrach an diesem Tag!“ Ein paar Tage später kam eine Antwort, geschrieben von einem Beamten. „Ich bestätige den Erhalt Ihres Schreibens, kann jedoch zu Inhalten und Details der Asylverfahren keine Auskunft erteilen“, steht darin. Es folgt eine Liste von Paragrafen. „Mit freundlichen Grüßen.“ Der Brief könnte kühler nicht sein. „Aber wir haben immer noch gehofft, dass alles gut ausgeht“, sagt Philipp. Es ging nicht gut aus.

Vor kurzem hat der Verfassungsgerichtshof entschieden, dass Arigonas Ausweisung rechtskräftig ist. Arigona Zogaj, so das Hauptargument, hätte wissen müssen, dass sie nicht bleiben kann – und deshalb zählen die Bedingungen nicht, die normalerweise ein humanitäres Bleiberecht sichern: dass sie in die Schule geht, oberösterreichischen Dialekt spricht, Freunde und Berufsaussichten hat. Und eine Beziehung. „Ich sehe es als meine Aufgabe, Arigona in ihrem so zerrissenen Leben zu unterstützen“, sagt Philipp. „Aber ich bin am Ende meiner Weisheit. Was soll ich tun, wenn Arigona nicht mehr kann?“

Bitte um Aufschub. Arigona hat die Bezirkshauptmannschaft um Aufschub bis Mitte Juli gebeten. Doch ab nun kann jeden Tag die Fremdenpolizei frühmorgens in ihr Quartier im Schloss Frein stürmen und die Familie in Schubhaft nehmen – Mutter Nurie, die beiden kleinen Geschwister Albin und Albona (zehn und elf Jahre alt) und Arigona. Es wäre eine Wiederholung der Abschiebung vom Jahr 2006. Damals tauchte Arigona unter. Nun wird sie das nicht mehr machen. „Sie wird freiwillig ausreisen“, sagt Philipp. „Aber doch nicht so schnell: Zumindest soll sie dieses Schuljahr fertigmachen können, wenn sie sie schon im zweiten Jahr rausschmeißen! Wem tut denn das weh?“

Er und seine Familie, die sich bisher von Medien ferngehalten haben, wollen nun auch öffentlich zeigen: „Wir stehen hinter Arigona.“ „Wir haben sie sofort ins Herz geschlossen, die Gona. So ein herzliches Mädchen, und so tüchtig“, sagt die Mutter. „Hier hat der österreichische Staat versagt. So geht man doch nicht mit Menschen um, die seit vielen Jahren hier leben. Was soll die Familie denn im Kosovo machen?“, schimpft der Vater. Die kleine Schwester ist acht und versteht nichts von Fremdenrecht. „Die Gona soll nicht weg“, piepst sie.

Doch wie das gehen soll, weiß keiner am Tisch. „Ich würde alles tun, damit sie bleiben kann. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn Alfons Haider sie heiratet – er ist ein super Typ. Aber das bringt nichts“, seufzt Philipp. Die Innenministerin selbst hatte den Vorschlag einer Heirat gemacht. Dabei müsste sie es besser wissen: Um über eine Ehe eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, müsste Arigona 21 Jahre alt sein, ihr österreichischer Ehemann in spe müsste fast 1.200 Euro netto verdienen und eine Wohnung haben (s. Kasten). Philipp aber wohnt im Kinderzimmer bei den Eltern. Die Schule wird er erst in einem Jahr abschließen. Und was er nachher machen will, weiß er noch nicht.

Arigona, sagt er, gehe es derzeit sehr schlecht. „Sie versucht, stark zu wirken, aber hinter der Fassade ist sie einem Zusammenbruch nahe“, sagt Philipp. Als sie mit zehn Jahren aus dem Kosovo floh, war Krieg. Die Bilder der zerfetzten Leichen haben sich in ihren Kopf eingebrannt. „Ich gehe nicht lebend zurück“, hat sie immer wieder in Interviews gesagt. Psychiater haben bestätigt, dass sie suizidgefährdet ist – so wie ihre Mutter. Auch nüchtern betrachtet ist ein Leben im Kosovo wenig ermutigend. Das zeigt schon das Schicksal der älteren Brüder: Der Vater hat die Familie verlassen, das Haus gibt es nicht mehr. Einer der beiden Brüder musste sich nach einer Blutvergiftung fast den Arm amputieren lassen, so schlecht ist die Gesundheitsversorgung. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt über 70 Prozent.

Doch nun gibt es keinen Ausweg mehr: Arigona muss den Tatsachen ins Auge sehen. „Das Wichtigste ist für sie“, sagt Philipp, „dass sie nicht von ihrer Familie getrennt wird.“ Um ihre beiden kleinen Geschwister, die 2006 abgeschoben wurden und 2008 von den älteren Brüdern zurück nach Österreich gebracht wurden, kümmert sie sich wie eine Mutter. Ihrer eigenen Mutter Nurie entriss sie selbst das Messer, das sich die verzweifelte Frau nach einem negativen Bescheid in den Bauch rammen wollte. „Arigona hat Verantwortung. Eine Lösung nur für sie, ohne die Kleinen und die Mutter, ist keine“, erklärt ihr Freund.

Der letzte Strohhalm. Die beiden klammern sich nun an eine letzte Hoffnung: ein Schülervisum (s. Kasten). Der Plan: Arigona reist mit ihrer Mutter und den beiden kleinen Geschwistern freiwillig aus. Im Kosovo kann die Familie bei den älteren Brüdern unterkommen, deren kleine Wohnung Pfarrer Friedl aus Spenden zahlt. Dann wollen sie den Antrag auf Schülervisa für Arigona und die kleinen Geschwister stellen. Bürgen sind bereits gefunden, die Schulen haben zugesichert, die Kinder wieder aufzunehmen. Philipp hofft, dass die Behörden schnell sind und vor dem Schulanfang im Herbst die Papiere ausstellen. Doch nach so vielen Jahren Tauziehen kann er das selbst kaum mehr glauben. Die Ausreise bedeutet auch ein gewaltiges Risiko: Es kann gut sein, dass Arigona jahrelang nicht zurückkehren kann.

Philipp hofft jetzt noch auf ein Wunder: „Vielleicht kann sie ja doch bleiben.“ Wenn nicht, wird er Arigona im August im Kosovo besuchen. Im Herbst, sagt er, sitzt sie vielleicht schon wieder in der Schulklasse. Sein Vater dämpft die Hoffnungen: „Die Behörden haben schon so viel versprochen und nichts gehalten – ich glaube nicht, dass sie vor Schulbeginn zurück kann.“ Philipps Mutter wirft ihm einen warnenden Blick zu und legt die Hand auf die Schulter ihres Sohnes. „Das wird schon. Eure Liebe ist stark genug, um ein paar Monate Trennung zu überstehen.“ Philipp nickt. Er kann es noch nicht fassen. „Manchmal glaube ich, ich bin in einem Traum“, hat er der Innenministerin geschrieben. „Aber es ist die bittere, kalte Realität.“

Arigona: ihr Leben danach

Der Aufschrei. Wer jetzt für sie kämpft, wann sie wirklich zurückmuss. Der Report. Arigonas fremde Heimat Kosovo – auf der Suche nach ihrer Zukunft. Das Interview. So will Fekter in der Fremdenpolitik den Kurs verschärfen. NEWS Nr. 25/10 vom 24.06.2010.

Arigona geht es sehr schlecht. Sie kann kaum mehr schlafen, ein Zusammenbruch ist leider jederzeit möglich.“ Das sagt ein Betreuer von Arigona Zogaj – der 18-jährigen Schülerin, die in Österreich lebt, seit sie zehn Jahre alt war, und seit drei Jahren gegen ihre Abschiebung in den Kosovo kämpft. Nun sind die Würfel gefallen: Der Asylantrag ist abgelehnt, eine Abschiebung rechtlich gedeckt, Bleiberecht wird nicht gewährt. Die Bezirkshauptmannschaft hat die „unverzügliche Ausreise“ angeordnet.

Eine Gnadenfrist gestehen die Behörden der Familie nach einem persönlichen Gespräch jetzt aber doch noch zu: „Arigona und ihre kleinen Geschwister Albin und Albona dürfen noch dieses Schuljahr abschließen, das bis 9. Juli dauert, und bekommen dann noch ein paar Tage Zeit, um ihre Angelegenheiten zu regeln. Dann werden sie freiwillig ausreisen“, erklären die Betreuer von der Volkshilfe. Arigonas Mutter Nurie hat bereits begonnen, die Koffer zu packen. Die Abreise erfolgt per Flugzeug. Ein anderer Weg wäre gar nicht möglich: Die Familie verfügt über keine Pässe und würde an den Landesgrenzen scheitern.

Seit vergangener Woche hat das Drama um Arigona Zogaj einen neuen Aspekt: Ihr Freund Philipp B., 17, meldete sich in NEWS zu Wort. Nun geht es auch um eine junge Liebe, die zerrissen wird, wenn Arigona gehen muss. Die beiden sind seit Jänner ein Paar. „Ich hoffe immer noch auf ein Wunder. Aber wenn es nicht mehr anders geht, müssen wir damit umgehen“, sagt Philipp, der schon eine Reise in den Kosovo für August plant. Seine Eltern nicken dazu. „Wir stehen voll hinter Arigona. Sie hat hier eine Familie, auf die sie zählen kann“, sagt Philipps Mutter. Der Vater ergänzt: „Wir hoffen, dass sie im September wieder hier ist. Aber wir haben das Vertrauen in die Behörden verloren – es ist schon so viel versprochen worden, nichts hat gehalten.“

Hoffnung auf Rückkehr. Tatsächlich sind die Möglichkeiten für Arigonas Rückkehr beschränkt. Innenministerin Maria Fekter hat zwar eine Reihe davon aufgezählt: Saisonniers-Kontingent, Schlüsselkraft, Ehe mit einem Österreicher, Schülervisum. Doch fast alle davon fallen weg: Um als Kosovarin ein Saisonniers-Visum zu bekommen, muss man bereits legal in Österreich gearbeitet haben – doch Arigona ist Schülerin. Als Schlüsselkraft müsste sie Führungskraft werden, über 2.466 Euro verdienen und einen Hochschulabschluss haben.

Für eine Aufenthaltsgenehmigung per Ehe mit einem Österreicher ist Arigona zu jung: Das geht erst ab 21 Jahren – und der Ehemann müsste über 1.200 Euro verdienen. Ihr Freund Philipp, selbst Schüler, fällt damit als Retter aus. Bleibt nur eine Möglichkeit: ein Schülervisum für sie und die beiden kleinen Geschwister, die sie auf keinen Fall zurücklassen will. Da diese aber nur mit der Mutter ausreisen dürfen, müsste Nurie Zogaj erstens im Kosovo das Sorgerecht erstreiten – und zweitens ein Saisonniers-Visum bekommen.

Warten auf die Behörden. Nun beginnt für die Zogajs wieder ein Wettlauf durch die Behörden und gegen die Zeit: Im September beginnt Arigonas letztes Schuljahr. Bis dahin muss die Familie kosovarische Pässe beantragen und alle notwendigen Unterlagen beim österreichischen Konsulat in Pristina einreichen. Für die Genehmigungen sind dann das Innenministerium, die oberösterreichische Landesregierung und die Bezirkshauptmannschaft zuständig. „Wir hoffen, dass wir alle Voraussetzungen gleich erfüllen“, sagen die Betreuer von der Volkshilfe: Die Schulen haben bereits bestätigt, dass sie die Zogajs wieder aufnehmen würden, und auch Bürgen mit einem Einkommen von über 1.300 Euro sind schon gefunden: Alfons Haider wird für Arigona bürgen, Pfarrer Friedl und eine Linzerin für die Geschwister. „Ob die Behörden vor September entscheiden, wagen wir nicht zu sagen.“ Für Arigona wäre es ein Alptraum, wenn sie nicht zurück könnte. „Sie sieht im Kosovo keine Zukunft für sich“, sagt ihr Freund Philipp. Vermutlich zu Recht, wie der NEWS-Lokalaugenschein zeigt (siehe Reportage ab der nächsten Seite).

Protestwelle in Österreich. Während sich die Zogajs auf die freiwillige Ausreise vorbereiten, rollt in Österreich eine Protestwelle an: Nicht nur ihre Mitschüler und die ehemaligen Nachbarn aus Frankenburg demonstrieren – auch in Wien werden nun Solidaritätskundgebungen organisiert. Die Liste der Unterstützer des Aufrufs „Arigona Zogaj und ihre Familie sollen bleiben! Für eine menschenwürdige Asylpolitik!“ liest sich bereits wie ein Who’s who der österreichischen A-Prominenz: Oscarpreisträger Stefan Ruzowitzky, Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und eine Reihe von Musikern und Schriftstellern rufen zur Demonstration am 1. Juli auf (siehe Kasten).

Eine wird bei keiner der Veranstaltungen dabei sein: Arigona Zogaj selbst. „Sie ist dazu derzeit nicht in der Lage. Und wir haben Angst, dass sie sich durch einen öffentlichen Auftritt die Chance auf ein Schülervisum verbaut“, meinen enge Vertraute. Arigona will bleiben. Aber selbst sagen kann sie das nicht mehr.

,Ich kämpfe jetzt wieder‘

Porträt. Schirin Bogner, bekannt als Österreichs erstes Aids-Baby, ist heute 25 Jahre alt und hat sich eine Aufgabe gesetzt: gegen die Verbreitung der unterschätzten Seuche Aids zu kämpfen. Von C. Milborn, S. Wobrazek. NEWS Nr. 26/10 vom 01.07.2010.

Schirin Bogner strafft die Schultern und schüttelt entschieden den Kopf. „Nein, der Kampf gegen Aids ist nicht gewonnen. Die Infektionsraten steigen auch in Westeuropa, und anders, als manche Ärzte glauben machen, ist das Leben mit Aids trotz der Medikamente ein ständiger Kampf“, sagt sie. „Aids war einmal ein Hype. Heute ist es eine unterschätzte Gefahr.“ Sie kommt eben von einer Diskussion mit Gesundheitsminister Gerald Stöger: eine selbstbewusste junge Frau in burschikoser Kleidung. Doch Schirin Bogner weiß in jedem Moment, dass sie anders ist. Sie ist seit ihrer Geburt mit dem HI-Virus infiziert.

Bekannt wurde Schirin als „Österreichs erstes Aids-Baby“. Ihr Lebenslauf deckt sich mit der Entwicklung von Aids in Europa. Im Jahr ihrer Geburt, 1985, wird der erste Aids-Test entwickelt. Mit acht Jahren ist sie Vollwaise – beide Eltern sterben an Aids, Schirin wächst bei ihrer Großmutter auf. Als sie zehn ist, bricht die Krankheit aus. Im selben Jahr wird die Kombinationstherapie erfunden. „Ich war von Anfang an eine Testperson für die neuesten Medikamente“, sagt Schirin. „Und auch heute kämpfe ich mit den Nebenwirkungen: einmal aufgeschwemmt, dann wieder ausgemergelt, Knoten unter der Haut, die Anfälligkeit für Krankheiten.“

Trügerischer Fortschritt. Dr. Horst Schalk, der Generalsekretär der Gesellschaft niedergelassener Ärzte zur Betreuung HIV-Infizierter, bestätigt: „In den 90er-Jahren hatten die Medikamente schwere Nebenwirkungen wie Nierenschäden, Fettstoffwechselstörungen und Schädigungen der Nerven. Heute kämpfen die Patienten mehr mit Müdigkeit oder Verdauungsstörungen.“ Aids sei heute in Westeuropa gut behandelbar: „Die Therapie ist beinahe ausgereift. Doch eine vollständige Heilung wird es in den nächsten Jahren noch nicht geben.“ Schirin Bogner allerdings warnt vor Euphorie: „Man sagt uns, dass wir nun eine normale Lebenserwartung hätten. Doch wer weiß, welche Nebenwirkungen in den nächsten Jahren auftreten.“

Doch auch wenn Tabletten und Therapien das Leben von Schirin heute erleichtern: Das größte Problem ist nicht die Medizin – sondern die soziale Ausgrenzung. Bei Schirin begann sie schon im Kleinkindalter. 1989, sie ist gerade vier, schließt ihre oberösterreichische Heimatgemeinde das Mädchen per Abstimmung aus dem Kindergarten aus. Schirin erlangt traurige Berühmtheit. „Damals, als Kind, habe ich das noch hingenommen. Die Folgen realisiert man erst später.“ Schirin schafft wegen ihrer Krankheit keinen Schulabschluss. Als die Großmutter an Alzheimer erkrankt und in ein Pflegeheim muss, übersiedelt die junge Frau nach Deutschland, wo sie auch therapiert wird. Es folgt eine Reihe von Frusterlebnissen.

„Ich habe mich immer wieder für Jobs beworben und sehr positive Gespräche geführt. Doch sobald ich sagen musste, dass ich Aids habe, war es vorbei.“ Auch privat bestimmt das Stigma der Krankheit ihr Leben: „Beziehungen scheitern am Thema Aids: sei es an der Angst vor Ansteckung, sei es an meiner Entscheidung, keine Familie zu gründen.“ Verstecken kann sich Schirin nicht: Es genügt, ihren Namen zu googeln – und schon weiß jeder Bescheid.

„Die Diskriminierung ist der härteste Teil des Lebens mit Aids“, sagt auch Wiltrut Stefanek, die in Österreich eine Aids-Selbsthilfegruppe gründete ( www.pulshiv.at). „Selbst in einer Großstadt wie Wien müssen wir die Adressen von Ärzten unter uns handeln, die HIV-Patienten behandeln. Die meisten haben so viel Angst vor der Ablehnung, dass sie sich nicht outen – selbst ihrer Familie gegenüber nicht.“ Das bestätigt auch Helmut G., Krankenpfleger aus Wien, der seit 1996 die Diagnose „positiv“ bekam: „Wir haben sowohl im sozialen Umfeld als auch im Berufsleben mit Vorurteilen und Benachteiligungen zu kämpfen. Es hat vier lange Jahre gedauert, bis ich den Mut hatte, es meinen Eltern zu sagen.“

Vor zwei Jahren hatte Schirin Bogner genug vom Frust: Sie setzte die Medikamente ab. „Ich hatte das Gefühl, genug getan zu haben, und wollte ein normales Leben, auch wenn es nur kurz sein sollte. Ich wollte endlich alles ausprobieren, was mir verwehrt war.“ Schirin steigt in eine Softball-Mannschaft ein. Erst nach Wochen spricht sie über ihre Krankheit – und wird akzeptiert. Dann sucht sie einen Job, „bei dem keine Fragen gestellt werden“, und beginnt als Hilfskraft in einer Rohrreinigungsfirma. Sie putzt Toiletten und verstopfte Waschbecken und wird nach der Probezeit übernommen. Doch dann holt sie ihre Krankheit ein: Ein Arbeitskollege findet ihren Namen im Internet und informiert den Chef, dass Schirin an Aids leidet – und eine Infektion bricht aus. „Die Kollegen haben gut reagiert. Doch sie haben mir klargemacht, dass ich wegen des Risikos, krank zu werden, keine Aufstiegschancen habe. Also habe ich gekündigt.“

Zurück ins Leben. Die Auszeit von der Krankheit hat Schirin gutgetan: Sie will nun wieder leben. Sie nimmt ihre Medikamente und sieht ihre Aufgabe klar: gegen die Ausbreitung von Aids zu kämpfen. Und das ist nötiger denn je seit Ausbruch der Krankheit. „HIV und Aids sind aus dem Bewusstsein verschwunden. In den 1980ern war das ganz anders – doch heute ist diese Zeit für Jugendliche ebenso weit weg wie der Zweite Weltkrieg“, sagt die Hautärztin Judith Hutterer, die 1981 den ersten HIV-Patienten in Österreich betreute. Schirin Bogner geht nun auch, erstmals seit Jahren, wieder an die Öffentlichkeit: Im Rahmen der Aids-Konferenz in Wien diskutiert sie bei „Österreich Undercover“ in PULS 4 im Fernsehen (Ausstrahlung: 20. 7.). In Zukunft will sie Schulvorträge halten und für Aufklärung sorgen. „Ich sehe meinen Platz genau da: zu verhindern, dass noch ein Kind in meine Lage kommt. Denn wenn sich niemand mehr infiziert, ist die Krankheit nach einer Generation vom Erdball verschwunden.“

‚Afrika wird wie ein Kind behandelt‘

Auma Obama. Die Halbschwester von US-Präsident Barack Obama kam für die Aids-Konferenz nach Wien. NEWS sprach mit ihr über ihre Arbeit in Kenia. Interview: Corinna Milborn, Hanna Simons. NEWS Nr. 28/10 vom 15.07.2010.

Der Kampf gegen Aids und HIV brachte diese Woche rund 25.000 Menschen zur Internationalen Aids-Konferenz nach Wien. Internationale Gäste wie Ex-US-Präsident Bill Clinton oder Microsoft-Gründer Bill Gates gaben dem Anliegen der Konferenzteilnehmer ein prominentes Gesicht. Auma Obama hat einen nicht weniger prominenten Namen – doch die Halbschwester von US-Präsident Barack Obama ist nicht als Zugpferd zur Aids-Konferenz nach Wien gekommen, sondern als Expertin. Der mächtigste Mann der Welt und die 50-jährige Mutter einer Tochter haben denselben kenianischen Vater, wuchsen aber getrennt voneinander auf. Erst 1982, als sie bereits erwachsen waren, trafen sich Barack und Auma zum ersten Mal in Chicago. Die beiden verbindet seither regelmäßiger Kontakt, auch im Wahlkampf hat Auma ihren bekannten Halbbruder unterstützt.

Die gebürtige Kenianerin studierte in Heidelberg Germanistik, promovierte an der Universität Bayreuth und lebte in Berlin. Später zog sie nach London, arbeitete dort mit Kindern und Jugendlichen. Seit 2007 engagiert sich Auma Obama für CARE in ihrem Heimatland. Mit NEWS sprach sie über ihre Projekte, das Bild Afrikas in der Welt und über die größten Fehler der Entwicklungshilfe.

News: Afrika ist von HIV und Aids besonders stark betroffen. Bei der Aids-Konferenz geht es nicht nur um das Virus an sich, sondern um den Zusammenhang mit Menschenrechten, Ernährung, Armut. Inwiefern hat die Verbreitung von HIV etwas mit Armut zu tun?

Obama: Zunächst einmal wünsche ich mir, dass Afrika in der Welt nicht als ein Land, sondern als Kontinent wahrgenommen wird. Es gibt 53 verschiedene Länder und daher 53 verschiedene Situationen und verschiedene Wege, Aids zu bekämpfen. Ja, die Epidemie hat den Kontinent erfasst. Aber Uganda hat es zum Beispiel geschafft, die Zahl der Betroffenen zu reduzieren. Diese Unterscheidung ist auch für die Arbeit der NGOs wichtig: Oft kommen sie in ein Land, wollen etwas verbessern, haben aber keine Ahnung von der Infrastruktur, von den politischen Strukturen. Für den Erfolg der Arbeit ist es aber wichtig, mit der örtlichen Regierung zusammenzuarbeiten. Das Fehlen guter Regierungen und Verwaltungen ist oft ein Problem.

News: Beobachten Sie diese Nicht-Differenzierung auch in der internationalen Politik?

Obama: Ja, das ist ein großes Problem, genau wie viele pauschale Vorurteile, etwa dass Afrikaner gar keine Kondome benutzen wollen. Viele Menschen, auch Politiker, haben das Bild, dass Afrika ein kleines, hilfloses Land ist und dass sie den Afrikanern etwas beibringen müssen. Wenn man nicht zuhört, was die Probleme in den einzelnen Ländern sind, wird man nichts verändern können. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass man uns zuhört. Ich gehe zu vielen Konferenzen über die Probleme auf dem afrikanischen Kontinent. Dabei wird nie über die Länder gesprochen, in denen es auch eine positive Entwicklung gibt.

News: Welche Erfahrungen mit dem Bild Afrikas in Europa haben Sie während Ihrer Studienzeit in Deutschland gemacht?

Obama: Ich habe dieselben Stereotype erlebt. Afrika wird wie ein Kind behandelt, um das man sich kümmern muss. Dabei gibt es in afrikanischen Ländern Menschen, mit denen man partnerschaftlich auf Augenhöhe zusammenarbeiten kann, wie etwa gut ausgebildete Ärzte. Diesen partnerschaftlichen Ansatz verfolgen wir auch bei unseren Projekten mit Kindern und Jugendlichen.

News: Macht es einen Unterschied, dass der US-Präsident afrikanische Wurzeln hat?

Obama: Afrika ist im Blickfeld der USA, es sind vielleicht die einzelnen Länder mehr in den Fokus gerückt, und es hat der Politik neuen Antrieb gegeben. Jetzt gilt es, abzuwarten, was passiert. Aber auch George W. Bush hat viel für den Kampf gegen Aids in Afrika getan.

News: Rufen Sie Ihren Bruder an, wenn Sie Unterstützung für Ihre Arbeit brauchen?

Obama: Nein. Er ist mein Bruder und macht seinen Job, ich mache meinen.

News: Hilft Ihnen der bekannte Name nicht bei Ihrem Job – dabei, auf Ihre Arbeit aufmerksam zu machen?

Obama: Das sollte nicht nötig sein. Über meinen Namen zu sprechen ist nicht wichtig. Es würde nur mir helfen, aber ich brauche keine Hilfe. Mir geht es gut.

News: Es gibt Wirtschaftsexperten, die ein Ende der Entwicklungshilfe fordern, weil das Geld nur die Abhängigkeit Afrikas von den Gebern fördern würde. Zu Recht?

Obama: Ja, das ist ein Problem. Aber die Lösung ist, dass die Empfänger von Entwicklungshilfe selbst Entscheidungen treffen können, wofür sie die Hilfe am besten einsetzen können. Und sie müssen auch einmal Nein sagen dürfen, wenn sie mit Vorgaben nicht einverstanden sind, ohne fürchten zu müssen, dass sie nächstes Mal nichts mehr bekommen.

News: Österreich hat seine Entwicklungsausgaben um ein Drittel auf ca. 0,3 Prozent des BIP gekürzt. Ist das zu wenig?

Obama: Für mich ist es nicht so wichtig, wie viel jemand gibt, sondern, wohin das Geld geht. Die wichtige Frage ist: Warum bekommt ein Land Entwicklungshilfe? Hat es darum gebeten? Braucht es die Hilfe?

News: Sie arbeiten in Kenia für Care mit Jugendlichen. Wie ist es dazu gekommen?

Obama: Ich fühle mich meinem Heimatland verpflichtet und hatte nach der Arbeit mit Jugendlichen in London auch das Gefühl, dort mehr bewirken zu können. In Europa ist der Graben zwischen Jugend und Erwachsenen fast unüberwindbar, es herrscht Misstrauen. In Afrika sind die Jungen hungrig nach Chancen.

News: Wie funktionieren die Projekte „Sports for Social Change“?

Obama: Wir „ködern“ junge Menschen über den Sport. Sie spielen Fußball, Softball, lernen Boxen. Das fördert soziale Kompetenz, Selbstvertrauen. Nach dem Spiel setzen sich die Betreuer mit den jungen Menschen zusammen, sprechen über HIV, Bildung, Menschenrechte. Nicht belehrend, sondern auf Augenhöhe.

News: Im südlichen Afrika ist die Mehrheit der von HIV Betroffenen weiblich. Sie konzentrieren sich besonders auf die Mädchen. Wie kommen Sie an sie heran?

Obama: Wir machen Tage der offenen Tür, versuchen auch die Eltern zu überzeugen. Wenn sie sehen, dass Mädchen, die teilnehmen, Stipendien bekommen, ins Ausland zu Wettkämpfen fahren und von der Straße geholt werden, willigen sie ein. Die Mädchen bekommen durch das Projekt mehr Selbstvertrauen und lernen, dass sie auch Nein sagen dürfen.

News: Wie können Sie den Männern beibringen, ein Nein auch zu akzeptieren?

Obama: Auch hier kann der Sport einen Beitrag leisten. Wenn Frauen im Team Führungsstärke entwickeln, wenn sie gut oder sogar besser als die Burschen spielen, verändert das ihr Image, und sie bekommen mehr Respekt. Dabei geht es nicht nur um HIV, sondern um die Rolle der Frauen in der Gesellschaft. Darum, dass sie nicht die Schule abbrechen, um nur für Hausarbeit und Kinder da zu sein, denn damit begeben sie sich wieder in wirtschaftliche Abhängigkeit.

News: Wird eine Generation ausreichen, um eine Veränderung zu erzielen?

Obama: Nein, das ist ein langer Weg. Wir haben gerade erst angefangen.